Eine Geschichte von Liebe und Feuer
komisch vor, dass Sie nicht mal wissen, in wessen Haus Sie jetzt leben.«
»Aber das Haus gehört ihnen nicht mehr, oder?«
»Nun, es heiÃt, dass sie nicht mehr zurückkommen können. Aber wer weià das schon heutzutage? Die Politiker sagen mal dies und in der nächsten Minute was anderes. Aber vergessen Sie nicht, es wäre ein langer Weg zurück für sie â¦Â«
Die Frau schien ihr gern Auskunft zu geben, also bohrte Eugenia ein bisschen weiter nach.
»Wie war denn ihr Name?«
»Ekrem. Sie war eine reizende Frau. Er war in Ordnung, hat sich aber manchmal unten im Kafenion betrunken, und man konnte hören, wie er sie schlug. Dabei dürfen musli mische Männer überhaupt nicht trinken! Aber sie hat ein gutes Herz gehabt. Und es gab drei Mädchen, alle sehr hübsch, mit pechschwarzen Augen. Und wissen Sie, was ich glaube, wenn die älter gewesen wären, hätten sie sich lieber versteckt, als von hier wegzugehen, so glücklich waren sie in dieser Stadt. Es war wirklich grausam. Sie sind irgendwohin weit in den Osten der Türkei gezogen. Die Frau hatte richtig Angst davor. Am Tag ihrer Abfahrt hat sie sich buchstäblich die Augen ausgeweint. Sie konnte sich einfach nicht vorstel len, an irgendeinem gottverlassenen Ort bei der Familie ihres Mannes zu leben.«
Pavlina hätte gern weitergeplaudert, aber Eugenia hatte ge nug gehört. Je plastischer das Bild ihrer türkischen Vorgänger wurde, desto weniger fühlte sie sich heimisch in dem Haus.
Eine Woche nach ihrer Ankunft verirrte sich Eugenia mit den Kindern auf dem Rückweg vom Hafen, und sie standen plötzlich vor einer kleinen Kirche. Wie eine Schar Küken folgten die Mädchen Eugenia durch das Tor und über einen engen Hof. Sie öffnete die Tür, und langsam gewöhnten sich ihre Augen an das Dunkel. Im Innern brannte ein Ãllicht und warf einen schwachen Schein auf das Gesicht des Heiligen, der sie mit dunklen, mandelförmigen Augen ansah. Kurz darauf stellten sie fest, dass die alten Wände und Decken mit herrlichen Fresken bemalt waren und Dutzende Gesichter, jedes von einem blassen Heiligenschein umgeben, über ihnen schwebten.
Nacheinander zündeten sie lange, dünne Kerzen an und steckten sie in einen mit Sand gefüllten Behälter. Eugenia nahm an, dass Maria und Sofia für ihren Vater beteten. Auch sie richtete ein Gebet an die Panagia für die Familie, in deren Haus sie jetzt wohnten. Sie betete um ihr Wohlergehen, aber auch dafür, dass sie nicht mehr zurückkehrten.
Wofür Katerina betete, war leicht zu erraten. Ihre Lippen formten endlos die Worte »Mitera mou« und bestätigten, was Eugenia bereits wusste: dass Katerinas Gedanken fast ständig um ihre Mutter kreisten.
Die Kerzen verströmten genügend Licht in der Kirche, sodass Eugenia ihre GröÃe und Schönheit wahrnehmen konnte. Als sie auf ein Bild blickte, auf dem ein Heiliger verschiedene Wunder vollbrachte, hatte sie plötzlich das Gefühl, dass ihre Gebete erhört wurden. Sie hatte selbst eine Ikone aus ihrer Dorfkirche mitgebracht, in der Hoffnung, zu Ehren des Heiligen würde eine neue Kirche erbaut werden, aber jetzt fragte sie sich, ob dies überhaupt nötig wäre mit einem so herrlichen Gotteshaus in ihrer Nähe.
Die vier standen im Kreis und beobachteten die flackernden Kerzenflammen. Die Atmosphäre und Wärme waren so wohltuend, dass sie sich kaum davon losreiÃen konnten. Sie hatten vielleicht zehn oder zwanzig Minuten dort gestanden, als sie das Quietschen rostiger Türangeln hörten und mit einem Mal Tageslicht in die Kirche fiel.
Ein riesiger Mann im schwarzen Gewand und mit einem hohen Hut trat ein, der die ganze Kirche auszufüllen schien. Mit dröhnender Stimme, die viel zu laut für diesen Raum wirkte, sprach er einen GruÃ, und sie erschraken, als hätte man sie bei einer Unart erwischt. Es war der Priester.
»Willkommen in Agios Nikolaos Orfanos«, sagte er.
Eugenia bekreuzigte sich ein paarmal. Sie hatte beim Hereinkommen den Namen der Kirche nicht gesehen, wusste aber, dass Nikolaos Orfanos der Patron der Witwen und Waisen war. Nach all den Monaten der Ungewissheit war sie sich jetzt plötzlich sicher: Ihr Mann, der Vater ihrer Kinder, war tot. Warum hätte Gott sie sonst zu diesem Ort geführt? Es musste ein Zeichen sein.
In diesen wenigen Jahren waren so viele Frauen Witwen und so viele
Weitere Kostenlose Bücher