Eine glückliche Ehe
Finger über der Brust in seine umgearbeitete Uniform. »Ein Paradies«, sagte er leise. »Das ist ein Paradies …«
Am Abend gab es ein feudales Essen: Kaninchenbraten mit Rotkraut.
Lohmann saß in Hemdsärmeln am Tisch, obgleich Irmi ihm ein paarmal zuzwinkerte, aber er übersah es mit fast provokatorischer Nichtachtung.
»Ich habe eine verdammt vornehme Tochter«, sagte er schließlich, als sogar Hellmuth ihre Blicke auffielen. »Sie bekommt Schüttelfrost, weil ich wie ein Prolet am Tisch sitze, statt in einem dunklen Anzug mit weißem Hemd und Schlips. Aber wenn man den ganzen Tag hinterm Ladentisch steht und ein Beispiel von Sterilität sein muß, ist es eine Wonne, am Abend abzuschnallen. Verstehst du das, Hellmuth?«
»Aber ja, Johann.«
»Ich weiß nicht, wo Irmi diese Vornehmheit gelernt hat. Beim BdM bestimmt nicht. Da latschten sie in Schnürschuhen und idiotischen Uniformen herum, möglichst rustikal und urdeutsch!«
Sie aßen das Kaninchen restlos auf, Lohmann spendierte einen eigens angesetzten Wacholder zum Verdauen und wartete, bis seine Tochter wieder in der Küche war, um das Geschirr abzuspülen. Er zeigte auf die Sessel, sie zogen sich in die gemütliche Ecke unter die Stehlampe zurück und rauchten einen Zigarillo. Die Möglichkeiten eines Apothekers auf dem Schwarzmarkt waren zum gegenwärtigen Zeitpunkt geradezu unbeschränkt.
»Man sollte das nicht gleich am ersten Abend tun, mein Junge«, sagte Lohmann und paffte den Rauch gegen das Lampenlicht, er freute sich über die weiße, wabernde Wolke. »Aber ich bin ein Mann, der wenig vom langsamen Tritt hält. Der Krieg ist verloren, unser Volk liegt so auf der Schnauze, wie noch nie ein Volk gelegen hat, das Geld ist nichts mehr wert, ein Pfund Butter kostet 350 Mark, ein Pfund Fleisch 300, eine Amizigarette 6 Mark. Wer Kaffee bekommt, kann sich einen goldenen Gürtel umbinden! Bei den Bauern im Vorgebirge oder im Münsterland tauschen sie Klaviere gegen Kartoffeln, Teppiche gegen Speck, Barockschränke gegen Schinken. Wer von den Güterzügen, die ins Ausland zu den Siegern gehen, Kohlen klaut, hat den Segen von Kardinal Frings. Eine total verrückte Zeit, mein Junge, die sich ihrem Kulminationspunkt nähert. Man munkelt, daß in ein paar Monaten so etwas wie eine Geldreform kommen soll. Wie sie das anstellen wollen … mir ein Rätsel! Ob Deutschland noch zu retten ist?«
»Wir haben alle zwei Hände, Johann«, sagte Wegener. »Mit denen kann man etwas anfangen.«
»Sich am Hintern kratzen, wenn's so weitergeht! Das ist es, was ich dich fragen wollte. Ärzte braucht man immer. Die Universität Köln arbeitet wieder. Du wirst zu Ende studieren?«
»Nein!« antwortete Wegener ohne Zögern.
»Nicht?« Lohmann sah ihn durch den Rauch seines Zigarillos staunend an. »Warum denn nicht? Ach so, wegen des Geldes?!«
»Auch«, sagte Wegener. »Ich habe nichts mehr. Meine Eltern in Hannover – unser Haus – alles ist …«
Er schwieg. Schweigend rauchten sie weiter und blickten in die Dämmerung des Zimmers. Jetzt lüge ich nicht einmal, dachte er. Hellmuth hat mir erzählt, daß seine Eltern nicht mehr leben und das Haus zerbombt ist. Und Osnabrück? Das gleiche. Die Mutter vermißt. Vielleicht eine der namenlosen Toten, die man unkenntlich, grau bestaubt aus den Trümmern gezogen und in einem Massengrab verscharrt hat.
»Dein Studium bezahle ich!« sagte Lohmann plötzlich. »Das ist doch selbstverständlich!«
Wegener zuckte zusammen. Es gab keine Papiere mehr, nur die Wehrmachtsunterlagen und den Entlassungsschein von Friedland, ausgestellt nach Treu und Glauben: Hellmuth Wegener, Medizinstudent. Und die provisorische Kennkarte mit seinem Foto. Hellmuth Wegener. Es war so einfach, ein anderer Mensch zu werden. Aber ein anderer Mensch zu sein, das würde schwer sein!
Vier Semester Medizin? Was weiß man nach vier Semestern von der Medizin? Bestimmt mehr als die dreihundert Fachwörter, die er sich in Nowo Nigaisk aufgeschrieben und auf der Latrine auswendig gelernt hatte. Bestimmt auch mehr vom ärztlichen Handwerk, als er sich im Lagerlazarett hatte aneignen können. Er konnte verbinden, Injektionen geben, bei Operationen Klammern halten, abtupfen, Kompressen legen, abbinden. Genügte das für vier Semester? Da gab es noch die chemische Physiologie – von der hatte er überhaupt keine Ahnung. Und die Gynäkologie! Die Pädiatrie! Die Hämatologie. Die Neurologie. Er kannte die Namen alle, aber er konnte nur das, was er im Lazarett
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