Eine glückliche Ehe
gern, wenn sie ihre Hand wie ein kleines Gewölbe darüber legte, besitzergreifend, schützend, einbettend in die Wärme ihrer Finger. »Er starb in Rußland, in Orscha, neben mir. Lungenschuß. Ich möchte unseren Sohn nach ihm nennen.«
»Natürlich wird er Peter heißen.«
Er legte seine Hand über ihre Hand in seinem Schoß und schloß die Augen. Mein Sohn Peter … Wirst du jemals erfahren, wer dein Vater ist?
»Woran denkst du?« fragte sie. Das fragte sie immer, wenn er still war. Sie wollte alles von ihm wissen, auch seine Gedanken. Sie war so in seinem Wesen daheim, daß sie unruhig wurde, wenn sie ihn nicht mehr verstand. Und dabei lebten sie erst seit fünf Wochen miteinander.
»An Peter«, antwortete er ehrlich. »Er hieß Peter Hasslick. Ein Schlosser aus Osnabrück. Feiner Kerl.«
»Das glaube ich dir.«
»Schade, daß du ihn nicht kennengelernt hast.«
Er schwieg abrupt, fast erschlagen von dieser Artistik, die er jetzt durchspielte. Auch das ist eine Art Selbstzerfleischung, empfand er. Auch das kann Buße sein. Man muß sich ein gepanzertes Gewissen anerziehen, um eines Tages nicht moralisch auszubluten. Es gibt nur einen Hellmuth Wegener – auf diesen Satz, auf dieses einzige Fundament muß ich mein Leben bauen.
Am nächsten Morgen ging er zwei Häuserblocks weiter zu dem Schreibwarenhändler Knoll und kaufte sich eine Schulkladde mit rotem Deckel. Er brauchte dafür kein Altpapier abzugeben: Knoll war Kunde bei Lohmann und bekam hintenherum Vitamintabletten.
Und so begann er sein erstes Tagebuch, rückschauend bis ins Jahr 1944, auf den Tag im Juni, an dem er im Bataillonsbunker an der Wand stand, Machorka rauchte und Trauzeuge seines Freundes werden sollte.
Wer dieses liest, begann er seine Eintragungen, wundere sich nicht. Es ist das Leben eines Menschen seiner Zeit, den die Zeit zu dem gemacht hat, was er dann zeit seines Lebens blieb: Ich bekenne! – Ist das richtig? Oder muß ich sagen: Ich steige aus meinem Gewissenspanzer? Oder ist das besser: Ich bitte um Verständnis? Was ihr auch immer denkt, die ihr diese Zeilen lesen werdet: Ich habe nie aufgehört, Irmi zu lieben …
Er stockte. Kann ich das sagen? ›Ich habe nie aufgehört, Irmi zu lieben‹? Nach nur sechs Wochen?! Ich schreibe ja, als blickte ich schon auf ein langes gemeinsames Leben zurück! Aber er strich den Satz nicht durch, sondern fügte hinzu: ›Alles, was ich getan habe, tat ich aus Liebe.‹ Das durfte er sagen; er war sicher, daß er auch noch nach vielen Jahren zu diesem Satz stehen würde.
Er versteckte die Kladde auf dem Speicher unter einem losen Dielenbrett und schob eine Kiste darüber.
Von da ab schrieb er jede Woche eine Stunde lang an seinem Tagebuch, meistens, wenn Irmi zum Einkauf gegangen war oder Medizin zu den alten Leuten brachte, die nicht mehr zur Apotheke kommen konnten und deren Ärzte die Rezepte telefonisch durchgaben. Am nächsten Tag brachte die Post die Formulare. Das hatte sich bei Lohmann so eingespielt, und den Ärzten war es recht.
Von einem Pharmaziegroßhändler, der einmal im Monat bei der Lohmannschen Apotheke auftauchte und fragte, was man etwa noch beziehen wolle, auch ohne amtlichen Bezugsschein, bekam Wegener den Tip, kein treudeutsches Rindvieh zu sein, das ehrlich und aufrecht stehend an Magenschrumpfung eingeht, sondern ein weitblickender Geschäftsmann, der sich ausrechnen kann, daß die Zeiten nicht immer so mies bleiben werden.
Bei dem alten Lohmann war da nichts zu machen. Seine Ehrlichkeit war überwältigend. »Nur ein Charakter überlebt!« sagte er einmal, als man ihm anbot, hundert Glasröhrchen mit Pyramidon einzutauschen gegen westfälischen Knochenschinken. »Und wenn ihr alle hin- und herschiebt … ich tu da nicht mit!«
»Da ist nichts zu machen!« sagte der Pharmaziegroßhändler zu Hellmuth Wegener. »Ihr Schwiegervater ist ein Fossil aus der königlich-preußischen Apotheke! Aber Sie, mein Lieber! Landser, russische Gefangenschaft, ein Kumpel … Mit Ihnen müßte man doch auf dem Schwarzmarkt einen Laden aufziehen können, daß wir uns die Wände mit Butter und Schinken tapezieren können! Und Ihre süße junge Frau? Und das Baby? Das will doch auch was auf den Knochen haben! Soll Ihre Frau ein Gerippe zur Welt bringen? Na also! Wir sollten da mal etwas aufreißen.«
Es klappte schon beim ersten Anlauf. Oscar Hobolka – so hieß der Pharmaziegroßhändler, er stammte aus einem Dorf in Oberschlesien, das Szcynamszyk hieß, was keiner
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