Eine Handvoll Worte
ihn wieder in ihre Tasche. Sie prüft nach, ob ihr Aufnahmegerät noch läuft und das Mikrofon noch ausgerichtet ist. Zufrieden bleibt sie noch eine Weile sitzen, betrachtet die Familienfotos und begreift, dass Jennifer eine Zeitlang brauchen wird. Jemanden zur Eile anzutreiben, der offensichtlich in den Fängen einer Lungenkrankheit steckt, ist wohl nicht fair. Sie reißt eine Seite aus ihrem Schreibblock, kritzelt eine Notiz und holt ihren Mantel. Sie tritt ans Fenster. Das Wetter draußen hat sich geklärt, und die Pfützen auf dem Bürgersteig schimmern hellblau. Dann geht sie an die Tür und bleibt dort mit der Notiz stehen.
»Entschuldigen Sie mich einen Augenblick«, Jennifer hält eine Hand über den Telefonhörer. »Tut mir leid«, sagt sie. »Es wird eine Weile dauern.« Ihre Stimme lässt darauf schließen, dass ihre Unterhaltung an diesem Tag nicht fortgesetzt wird. »Da muss jemand Entschädigung beantragen.«
»Können wir uns wieder unterhalten?« Ellie reicht ihr den Zettel. »Die Einzelheiten stehen hier. Ich möchte wirklich wissen …«
Jennifer nickt, halbwegs auf ihren Anrufer konzentriert. »Ja, natürlich. Das ist das Mindeste, was ich tun kann. Und nochmals vielen Dank, Ellie.«
Ellie dreht sich um und will gehen, ihren Mantel über dem Arm. Als Jennifer den Hörer wieder ans Ohr führt, schaut Ellie sich noch einmal um. »Sagen Sie mir nur eins – auf die Schnelle. Als er – Boot – wieder ging, was haben Sie gemacht?«
Jennifer Stirling lässt die Hand mit dem Hörer sinken, ihre Augen klar und ruhig. »Ich folgte ihm.«
Das zwischen uns war keine Affäre. Falls du versuchst, etwas anderes anzudeuten, werde ich klarstellen, dass es nur in deiner Phantasie existiert hat.
Mann an Frau, per Brief, 1960
20
M adam? Möchten Sie etwas trinken?«
Jennifer schlug die Augen auf. Sie hielt die Armlehnen ihres Sitzes seit fast einer Stunde umklammert, während die Maschine der BOAC einen unruhigen Flug nach Kenia absolvierte. Sie war nie gern geflogen, doch die anhaltenden Turbulenzen hatten die Anspannung in der Comet so hochschnellen lassen, dass selbst die alten Afrika-Fahrer bei jeder Bö die Zähne zusammenbissen. Sie fuhr zusammen, als sie aus dem Sitz gehoben wurde, und aus dem hinteren Teil des Flugzeugs tönte erschrecktes Jammern. Hastig angezündete Zigaretten hatten die Kabine vernebelt.
»Ja«, antwortete sie. »Bitte.«
»Ich gebe Ihnen einen doppelten«, sagte die Stewardess zwinkernd. »Das wird ein holpriger Anflug.«
Sie trank die Hälfte in einem Zug. Nach einer Reise, die inzwischen fast achtundvierzig Stunden dauerte, brannten ihr die Augen. Vor ihrem Aufbruch hatte sie in London einige Nächte wach gelegen, ihre Gedanken hatten sich überschlagen, und sie hatte mit sich gerungen, ob das, was sie vorhatte, Wahnsinn war, wie alle anderen anscheinend dachten.
»Möchten Sie etwas davon?« Der Geschäftsmann neben ihr hielt ihr eine Dose hin, deren Deckel zu ihr zeigte. Die Hände des Mannes waren groß, die Finger wie getrocknete Würste.
»Danke. Was ist das? Pfefferminz?«, fragte sie.
Die Maschine sackte.
Er lächelte unter seinem dicken weißen Schnurrbart. »O nein.« Er sprach mit starkem Akzent, Afrikaans. »Die sind zur Beruhigung der Nerven. Später sind Sie vielleicht froh darüber.«
Sie zog die Hand zurück. »Nein, danke. Mir hat einmal jemand gesagt, vor Turbulenzen brauche man keine Angst zu haben.«
»Stimmt. Bei den Turbulenzen am Boden sollte man vorsichtig sein.«
Als sie darüber nicht lachte, betrachtete er sie einen Moment lang. »Wo wollen Sie hin? Safari?«
»Nein. Ich muss einen Anschlussflug nach Stanleyville bekommen. Mir wurde gesagt, es gebe keinen Direktflug von London aus.«
»Kongo? Wozu wollen Sie dorthin, Gnädigste?«
»Ich versuche, einen Freund zu finden.«
Er war fassungslos. »Im Kongo ? «
»Ja.«
Er schaute sie an, als wäre sie verrückt. Sie richtete sich ein wenig auf und lockerte vorübergehend den Griff um die Armlehnen.
»Lesen Sie denn keine Zeitung?«
»Ein wenig, aber seit einigen Tagen nicht. Ich hatte … sehr viel zu tun.«
»Viel zu tun, he? Meine Liebe, kann sein, dass sie auf dem Absatz kehrtmachen und wieder nach England zurückwollen.« Er lachte leise glucksend. »Ich bin mir ziemlich sicher, dass Sie nicht bis in den Kongo kommen.«
Sie wandte sich von ihm ab, um aus dem Fenster auf die Wolken zu schauen, die fernen, schneebedeckten Berggipfel unter sich, und fragte sich, ob auch nur die
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