Eine Handvoll Worte
Zeit gefangen. »Er hat mir alles gesagt. Erstaunlich, wenn man einen solchen Brief bekommt. Zu wissen, dass man durch und durch geliebt wird. Er konnte immer entsetzlich gut mit Wörtern umgehen.«
Der Regen wird kurz zu einer Sintflut und donnert gegen die Fenster, unten auf der Straße rufen Menschen.
»Mich hat Ihre Liebesaffäre gelinde gesagt in den Bann gezogen, wenn das jetzt nicht zu eigenartig klingt. Ich wollte Sie beide unbedingt wieder zusammenbringen. Ich muss fragen, sind Sie … sind Sie je wieder zusammengekommen?«
Die moderne Ausdrucksweise scheint falsch, unangemessen, und Ellie hat plötzlich Hemmungen. Die Frage hatte etwas Schamloses, denkt sie. Sie hat es zu weit getrieben.
Gerade als Ellie sich entschuldigen und gehen will, ergreift Jennifer wieder das Wort. »Möchten Sie noch einen Kaffee, Ellie?«, fragt sie. »Es hat wohl keinen Zweck, wenn Sie aufbrechen, solange es dermaßen regnet.«
Jennifer Stirling sitzt auf dem Sofa, die Tasse auf dem Schoß, der Inhalt wird kalt, und erzählt die Geschichte einer jungen Frau in Südfrankreich, eines Ehemannes, der, mit ihren Worten, wahrscheinlich nicht schlimmer war als andere damals. Er war ein Mann seiner Zeit, der keine Miene verzog – Gefühle zum Ausdruck zu bringen, war für ihn ein Zeichen von Schwäche, unziemlich. Und sie erzählt die Geschichte seines Gegenteils, eines griesgrämigen, rechthaberischen, leidenschaftlichen, kranken Mannes, der sie schon am ersten Abend aus der Fassung brachte, an dem sie ihn bei einer Dinnerparty im Mondschein kennenlernte.
Ellie hört ihr hingerissen zu, Bilder entstehen vor ihrem geistigen Auge, und sie versucht, nicht an das Aufnahmegerät in ihrer Handtasche zu denken, das sie eingeschaltet hat. Aber sie kommt sich nicht mehr schamlos vor. Mrs Stirling spricht angeregt, als hätte sie diese Geschichte schon seit Jahrzehnten erzählen wollen. Sie sagt, es sei eine Geschichte, die sie im Lauf der Jahre Stück für Stück zusammengestellt hat, und Ellie, obwohl sie nicht alles versteht, was gesagt wird, will nicht unterbrechen, um etwas klarstellen zu lassen.
Jennifer Stirling erzählt, wie ihr vergoldetes Leben plötzlich überschattet wurde, von den schlaflosen Nächten, ihren Schuldgefühlen, dem beängstigenden, unwiderruflichen Hang zu jemandem, der verboten war, von der grauenvollen Erkenntnis, dass das Leben, das man führt, das falsche sein könnte. Während sie spricht, kaut Ellie an ihren Fingernägeln und fragt sich, ob John auch so denkt, gerade in diesem Augenblick, an einem fernen, sonnendurchfluteten Strand. Wie kann er seine Frau lieben und mit ihr, Ellie, zusammen sein? Wie kann er diesen Sog nicht spüren?
Die Geschichte wird dunkler, die Stimme ruhiger. Jennifer berichtet von einem Autounfall auf einer nassen Straße, einem schuldlosen Mann, der dabei ums Leben kam, und den vier Jahren, die sie durch ihre Ehe schlafwandelte, aufrechterhalten nur von Tabletten und der Geburt ihrer Tochter.
Sie bricht ab, greift hinter sich und reicht Ellie ein gerahmtes Foto. Eine große, blonde Frau steht in Shorts barfuß neben einem Mann, der den Arm um sie gelegt hat. Zwei Kinder und ein Hund sind zu ihren Füßen zu sehen. Sie sieht aus wie eine Werbung für Calvin Klein. »Esmé ist wahrscheinlich nicht viel älter als Sie«, sagt Jennifer. »Sie lebt mit ihrem Mann, einem Arzt, in San Francisco. Sie sind sehr glücklich, soweit ich weiß.«
»Weiß sie über die Briefe Bescheid?« Ellie stellt den Rahmen vorsichtig auf den Couchtisch und versucht, der unbekannten Esmé nicht ihre spektakulären Erbanlagen zu missgönnen, ihr offenbar beneidenswertes Leben.
Diesmal zögert Mrs Stirling mit der Antwort. »Ich habe diese Geschichte noch keiner Menschenseele erzählt. Welche Tochter will schon hören, dass ihre Mutter jemand anderen als ihren Vater geliebt hat?«
Dann erzählt sie von einer zufälligen Begegnung Jahre später, dem wunderbaren Schock, zu entdecken, dass sie war, wo sie sein sollte. »Können Sie das verstehen? Ich war mir so lange fehl am Platz vorgekommen … und dann war Anthony da. Und ich hatte dieses Gefühl.« Sie tippt an ihr Brustbein. »Dass ich zu Hause war. Dass er es war.«
»Ja«, sagt Ellie. Sie hockt auf der Sofakante. Jennifer Stirlings Gesicht leuchtet. Plötzlich kann Ellie die junge Frau sehen, die sie einst war. »Ich kenne das Gefühl.«
»Das Schreckliche war natürlich, dass ich, nachdem ich ihn wiedergefunden hatte, nicht die Freiheit hatte, mit
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