Eine heißblütige Lady: Roman (German Edition)
Berge versetzen«, erklärte Lawrence ihr und lächelte ironisch.
Aber sie log. Er hatte sie ein oder zwei Mal nachts weinen gehört. Kein Schluchzen – das würde sie sich niemals gestatten –, sondern kleine, kaum hörbare, zittrige Atemzüge, in denen so viel Leid mitschwang, dass es ihn große Überwindung gekostet hatte, nicht die Hand nach ihr auszustrecken und sie in die Arme zu schließen.
Er würde sterben, um sie zu beschützen. Wenn es möglich wäre, würde er sogar glücklich sterben, und sei es nur, um ihre Erinnerungen zu tilgen. Aber das ging nicht. Die Vergangenheit konnte nicht ausgelöscht werden. Er konnte ihr allenfalls eine Zukunft bieten.
Wenn sie das überhaupt in Erwägung zog, hatte er doch ihren geliebten Longhaven in Gefahr gebracht – wenn auch ungewollt. Er sagte die Wahrheit. Er hätte nie gedacht, Alice Stewart werde noch einmal einen Fuß auf englischen Boden setzen.
»Wissen Sie, wo wir sie finden?«, fragte der Marquess ihn. Sein Blick war misstrauisch. »Immer natürlich unter der Voraussetzung, dass es Alice Stewart gelungen ist, nach England zurückzukehren.«
»Nein«, sagte Lawrence möglichst ungerührt. »Aber dank meiner bisherigen Erfahrungen mit dieser Dame wüsste ich, wo ich zuerst nach ihr suchen würde.«
»Und zwar?«
»Wo ist Eure Frau?«
In all den Jahren seiner Freundschaft mit Longhaven hatte er nie erlebt, wie der Marquess nicht souverän auf jede neue Situation reagierte. Aber jetzt hätte er schwören können, dass der Mann sichtlich erbleichte. »Sie hat die Einladung zum traditionellen Herbstball bei den Marstons angenommen. Meine Eltern sind ebenfalls hingegangen, und Fitzhugh begleitet sie. Ich habe ihr versprochen, später dazuzustoßen. Morgen schicke ich sie auf den Familiensitz nach Kent. Dort ist sie in Sicherheit, bis das alles vorbei ist.«
Mit einer Sachlichkeit, die er sich in den langen Jahren seiner Arbeit erworben hatte, erwiderte Lawrence wahrheitsgemäß: »Es gibt keine absolute Sicherheit, Mylord.«
Die kleine Chloe schlief schon, als sie sich auf den Weg zum Ball machten. Julianne konnte jedoch nicht widerstehen, ein letztes Mal auf Zehenspitzen durch das Zimmer zu schleichen und ihr sanft über die zerzausten Locken zu streicheln. Das Kindermädchen, das sich bereits für die Nacht umgezogen hatte und ein einfaches Schultertuch über dem Nachthemd trug, saß am Kamin und nähte. Sie lächelte aufmunternd. Es gab mehrere Schlafzimmer, die vom großen Spielzimmer abgingen, und Julianne hatte eines der Zimmer ausgesucht, deren Fenster auf den Garten blickten. Morgens strahlte die Sonne herein, und an den Wänden hingen hübsche Bilder von Waldlandschaften, auf denen Häschen und Lämmchen auf sattgrünen Wiesen sprangen. Chloe hatte sich die Bilder lange sehr konzentriert angeschaut und dabei ihre liebste Puppe fest an sich gedrückt. Schließlich hatte das Kind gelächelt.
Das war ein Anfang.
Die Duchess hatte bereits ihrer Sorge Ausdruck verliehen, weil das Kind nicht sprach. Aber Julianne glaubte nicht, dass es stumm war. Sie war zwar kein Arzt, aber sie vermutete, das Schweigen war eher ein Mittel zum Selbstschutz. Sie hoffte, irgendwann würden Liebe, Wärme, Nähe und Sicherheit für das kleine Mädchen zu einem Hort werden. Dann würde sie sicher zu sprechen beginnen.
Für den Augenblick war sie einfach nur glücklich, wenn sie dieses schüchterne Lächeln voll kindlicher Freude sah. Dann wurde ihr die Kehle eng.
»Wenn Sie denken, dass sie mich braucht«, flüsterte sie dem Kindermädchen zu, »können Sie sie auch in mein Schlafgemach bringen. Wir kommen heute nicht so schrecklich spät heim.«
»Der Kleinen wird’s gut gehen, Mylady«, sagte Bryn leise. »Ich werde hier bei ihr schlafen, und alles ist in bester Ordnung. Macht Euch keine Sorgen um sie und genießt den Abend.«
»Das werde ich.«
Rutgers hat eine sehr gute Wahl getroffen, dachte Julianne. Sie hätte nichts dagegen, wenn das Mädchen die Stellung als Kindermädchen auf Dauer übernahm. Bryn machte den Eindruck, als freute sie sich darauf, zumindest für eine kleine Weile aufs Land zu fahren. Julianne war sich nicht sicher, ob Michaels Plan so klug war. Aber sie hatte auch nichts dagegen, London vorerst hinter sich zu lassen, bis die Angelegenheit mit Leah beigelegt war. Die merkwürdigen Ereignisse der letzten Tage hatten sie nachhaltig verwirrt.
Vor allem dieser Kuss, nachdem sie Michael gesagt hatte, dass sie ihn liebe.
Es war keine geschickte
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