Eine Hexe mit Geschmack
Zeit noch kommen
würde.
Wyst vertraute darauf, dass ich
ihn richtig führte. Oder vielleicht erwartete er auch, die Führung einer Hexe
nicht zu verstehen. So oder so wären Fragen sinnlos gewesen. Sämtliche
Antworten, die ich besaß, ergaben im Augenblick wenig Sinn, und ich hätte sie
ihm auf keine Art gegeben, die er hätte verstehen können.
Wir verbrachten den Morgen in
Schweigen. Manchmal ritt Wyst ein wenig voraus. Manchmal etwas hinterher.
Niemals neben mir. Gelegentlich warf er einen Blick über seine Schulter oder
ich warf einen über meine, und wir sahen uns kurz in die Augen. Doch ich hatte
keine Ahnung, was er dachte. Wyst konnte durch und durch unergründlich sein. Es
war Teil seiner Aufgabe. Weiße Ritter waren Vorbilder unerschütterlichen
Heldentums. Unter diesem stoischen Wesen und den rechtschaffenen Zaubern, das
wusste ich, war er ein sehr sterblicher Mann. Vielleicht war das lediglich
Wunschdenken meinerseits. Vielleicht hatten die Jahre unverdorbener Tugend
sämtliche sinnlichen Wünsche abgetötet. Dennoch war ich sicher, dass ich in
diesen Blicken etwas sah. Aber sah ich etwas, weil es da war oder weil ich
wollte, dass es da war? Und wollte ich wirklich, dass es da war? Natürlich
wollte ich das.
Was mich zu der Frage führte:
Waren dies die Wünsche eines verliebten Herzens oder eines fluchbelegten
Appetits? Ich vermutete, es war ein wenig von beidem. Die Sehnsucht ist oft ein
vielköpfiges Monster.
Meine Gedanken zu diesem Thema
wurden durch Molch unterbrochen. »Bist du dir darüber im Klaren, dass wir nach
Nordwesten reisen?«
Ich versuchte, ihn zu ignorieren,
aber das war lediglich Wunschdenken.
»Und dass die Horde aus dem Süden
kam.«
»Das ist mir bewusst.«
Molch schwieg einen Augenblick und
putzte seinen Flügel.
»Wollte nur sichergehen, dass du
es weißt.« Er putzte den anderen Flügel.
»Denn es kommt mir einfach so vor,
als wäre Süden eine bessere Richtung, wenn wir der Horde zu ihrem Ausgangspunkt
folgen wollen.«
»Ich verstehe, warum du das
denkst. Das ist der Grund, warum du der Vertraute bist und ich die Hexe.«
Molch blickte finster drein und
Gwurm kicherte.
Molch konnte nicht diskutieren,
aber der Dämon in ihm konnte das Thema auch nicht ganz fallen lassen. »Und wie
weit im Norden ist dieser Zauberer?«
Meine Vision ergab mit jeder
verstreichenden Stunde mehr Sinn. Ich teilte ihm mit, was ich wusste, im vollen
Bewusstsein, dass es ihm nicht genügen würde.
»Vier Prüfungen. Prüfung durch
Wagnis. Prüfung durch Stärke. Prüfung durch Kampf. Und Prüfung durch Magie.«
»Prüfungen? Hat die Vision nicht
vielleicht etwas in Richtung Meilen oder Tage erwähnt?« Ich lächelte nur.
»Ich hatte auf etwas Praktischeres
gehofft«, sagte Molch.
»Visionen sind selten praktisch.
Manchmal sind sie nützlich. Oft aufschlussreich. Praktisch fast nie.«
»Das ist ganz schön schwach, wenn
du mich fragst.«
»Ach, ich weiß nicht«, sagte
Gwurm. »Ich habe immer das Gefühl, zu viel zu wissen verdirbt einem den Spaß.
Erst das Nichtwissen macht das Leben lebenswert. Wer könnte je die Geschichte
vom verdammten Bill vergessen?«
»Von wem?«
Ich war froh, dass Molch fragte,
denn auch ich war neugierig. Zu fragen hätte aber meiner Hexenausbildung
widersprochen. Gwurm erzählte die Geschichte nur zu gerne.
»Eines Tages wurde in einem
kleinen Königreich ein Prinz geboren. Nun werden jeden Tag sehr viele Leute
geboren, und unter diesen Leuten sind so viele Prinzen, dass Bills Ankunft auf
dieser Welt kein allzu außergewöhnliches Ereignis war. Der König hatte bereits
vier Söhne, deshalb wurden eigentlich nicht noch mehr Erben benötigt.
Tatsächlich hatte eine Überfülle an Erben ebenso den Ruin vieler Königreiche
bedeutet wie ein Mangel daran. Aber dies ist nicht die Geschichte einer
politischen Hinterhältigkeit und höfischen Intrige, obwohl sie das unter anderen
Umständen sicher auch hätte sein können, denn Bill wurde unter dem Schatten des
Todes geboren.
Die Berichte darüber, wie genau es
geschah, unterscheiden sich. Ich habe die Geschichte auf ein Dutzend
verschiedene Arten erzählt bekommen. Einige sagen, die Palasthebamme sah ein
furchtbares Omen in Bills Nachgeburt, das sie verkündete, bevor sie vor Angst
starb. Andere flüstern, dass er mit dem Datum seines Todes auf der Stirn
geboren wurde. Aber die Version, die ich am häufigsten gehört habe und die mir
am besten gefällt, ist die, dass als der neugeborene Prinz das erste Mal
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