Eine Hochzeit im Dezember: Roman (German Edition)
betrachtete Bill, der neben ihr am Steuer saß – das stahlgraue Haar, das runde Gesicht, das mit dem Alter Kontur gewann; und die andere Kontur, die seines Körpers, die sich mit den Jahren auflöste wie langsam schmelzendes Eis. Bridget liebte Bill. Nicht mit der stürmischen Liebe, die sie für ihren Sohn empfand. Nicht mit der verzehrenden Leidenschaft, mit der sie Bill als Teenager geliebt hatte. Es war eher eine zuverlässige und wissende Liebe, ein tiefer Strom der Leidenschaft und der Erinnerung unter einer Oberfläche der Dankbarkeit.
Er drehte den Kopf, als er ihren Blick spürte, und berührte ihren Arm, halb Klaps, halb Puff, automatisch und beruhigend. »Wie geht es dir?« fragte er.
»Gut.« Sie wußte, daß Bill ihre Antwort akzeptieren würde, auch wenn sie nicht der Wahrheit entsprach.
Es ging Bridget nicht gut. Seit der Chemo wurde ihr bei langen Autofahrten schlecht. Sie sehnte sich danach, endlich auszusteigen, sich die Beine zu vertreten, frische Luft zu schnappen. Außerdem hatte sie Hunger. Auch das war eine Folge der Chemo, ein ständiges Bedürfnis, sich den Magen zu füllen, sowie ein durchaus berechtigtes Verlangen, sich von Zeit zu Zeit ein wenig zu verwöhnen. Das hatte innerhalb von sechs Wochen zu einer Gewichtszunahme von fünfeinhalb Kilo geführt, was Bridget als einen Schlag ins Gesicht empfand. Ganz besonders ärgerte sie sich jetzt auf der Fahrt zu ihrer eigenen Hochzeit darüber. Sie dachte an das pinkfarbene Kostüm aus Wollbouclé, das sie zur Trauung tragen wollte, wie der Rock am Bund einschnitt und hochrutschte, so daß er kürzer wurde, als er sein sollte. Und von da dachte sie deprimiert weiter zu dem Panzer, den sie unter dem Kostüm würde anlegen müssen, um die schwabbeligen Fettröllchen zu glätten: den Longline-BH, das Miederhöschen, die Strumpfhose. Zuviel Aufwand, aber Bridget war nicht bereit, sich einfach geschlagen zu geben.
Sie wollte beispielsweise auf keinen Fall ihren beinahe kahlen Kopf zeigen. Sie hatte sich eingeredet, sie trage die Perücke wegen ihres Sohnes, es wäre nicht so beunruhigend für ihn, wenn sie nicht krank aussähe. Und auch den Kollegen im Schulreferat gegenüber wäre es rücksichtsvoller. Aber natürlich trug sie die Perücke für sich selbst. In der mittleren Woche des dreiwöchigen Behandlungszyklus’, wenn sie einen Teil ihrer Kraft wiedergewonnen hatte, konnte sie beinahe glauben, es ginge ihr gut. Der Ton ihrer Haut hatte sich verändert (sie war blasser, und man hatte ihr gesagt, daß das auf Dauer so bleiben könnte), aber mit der Perücke und einem Tupfer Rouge, meinte sie, könnte sie als gesund durchgehen. Sie hatte die Erfahrung gemacht, daß Angst kontraproduktiv war. Man konnte nicht jede Minute ans Sterben denken.
Sie griff sich an die Perücke, das steife Netzgewebe, das ein wenig von ihrem Nacken abstand. Sie war aus europäischem Echthaar, hellbraun, das Haar dichter als ihr eigenes je gewesen war. Aber Bridget kam über die Fremdheit dieser Haarpracht, die eher wie ein Hut auf ihrem Kopf saß, nicht hinweg.
Die Perücke war unglaublich teuer gewesen, und Bridget hatte nichts unversucht gelassen, um die richtige zu finden. Während ihres ersten Drei-Wochen-Zyklus’ war sie von dem Bostoner Vorort, in dem sie wohnte, nach New York gereist und hatte dort auf Empfehlung einer Freundin eine Perückenmacherin ( sheitelmacher , wie Bridget inzwischen gelernt hatte) in Brooklyn aufgesucht, die angeblich eine wahre Künstlerin war. Sie hatte in einem Hotel in Manhattan übernachtet und am nächsten Tag eine lange Taxifahrt nach Flatbush in Brooklyn unternommen, wo ihr sogleich die scharfe Trennung des Viertels – mit seinen hebräischen Schildern und koscheren Geschäften – von den anderen Ortsteilen aufgefallen war. Sie hatte den bescheidenen Perückenladen voller Zweifel betreten, eine Außenseiterin, die sich dieser Rolle bewußt war und dennoch auf eine etwas chaotische Art freundlich empfangen und ins Hinterzimmer geführt wurde. Während sie dort auf die Ladeninhaberin gewartet hatte, die ihr weiterhelfen und in den Wochen nach der ersten Anprobe so etwas wie eine Vertraute werden sollte, hatte sie, unfähig, sich abzuwenden, im Spiegel eine dramatische Szene beobachtet, die sich im Sessel neben ihr abspielte. Eine junge Frau von höchstens achtzehn Jahren probierte eine neue Perücke an, die eben erst fertig geworden war. Sie wirkte unreif für ihr Alter und schien nahe an einem jener hysterischen
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