Eine Hochzeit im Dezember: Roman (German Edition)
ausgerechnet am Donnerstag vor dem Klassentreffen die Grippe bekommen hatte; daß Bill, der eigentlich nicht allein fahren wollte, sich von Jill, die beteuerte, sie komme schon zurecht, dazu hatte überreden lassen, es doch zu tun; jedoch beschloß, nur zur Cocktail-Party am Freitagabend zu gehen; um vielleicht mit Jerry, Harrison und Rob ein Glas zu trinken und ihren alten Englischlehrer Jim Mitchell zu treffen, der überraschend sein Kommen angekündigt hatte. Bills Softwareunternehmen war endlich in Schwung gekommen, und er hatte den egoistischen, beinahe kindlichen Wunsch gehabt, seinen alten Freunden von seinem Erfolg zu erzählen. Er war nach Back Bay gefahren, wo das Treffen stattfinden sollte. Melissa, seine Tochter, die damals siebzehn war, übernachtete bei einem Freund. Jill hatte versichert, sie werde sich eine Tasse Tee machen und es genießen, die Fernbedienung ausnahmsweise für sich allein zu haben.
Bridget war mit ihrer Freundin Anne zu der Cocktail-Party gegangen. Anne hatte ein Recht teilzunehmen, sie gehörte dem Jahrgang 74 an, aber sie traute sich nicht allein hin. Da viele von Bridgets Freunden – auch der Junge, mit dem sie damals zusammengewesen war – diesem Jahrgang angehörten, hatte Bridget sich überreden lassen, Anne zu begleiten. Sie hatte gehofft, sie würde vielleicht Nora oder Agnes sehen, vielleicht auch Harrison, doch von denen war keiner auf dem Fest gewesen. Und natürlich hatte Bridget damit gerechnet, Bill zu begegnen. Sie war dabei mindestens so neugierig auf Jill, die Frau, die ihn ihr abspenstig gemacht hatte, wie auf den Mann, den sie geliebt und seit zweiundzwanzig Jahren nicht mehr gesehen hatte.
Bridget hatte den Abend als eine Folge kleiner Schocks in Erinnerung behalten. Immer wieder hoben sich, wie bei einem Foto, das erst im Labor sichtbar wird, aus einem fremdem Gesicht vertraute Züge heraus. Jahre schmolzen dahin und verdichteten sich einen Augenblick später schon wieder, so daß jede Begegnung ihr eine Anzahl geistiger und seelischer Sprünge abverlangte. Es war eine lohnende und zugleich erschütternde Erfahrung, aber sie wußte auch, daß jeder, der sie begrüßte, den gleichen Prozeß durchmachen mußte. (Auch wenn es ein paar Alterslose gab, die sich in den Komplimenten der anderen sonnten, unter ihnen ihre Freundin Anne – zweifellos eine Erklärung dafür, warum Anne unbedingt auf diese Party wollte.)
Eine halbe Stunde nach ihrer Ankunft klopfte jemand Bridget auf die Schulter. Sie drehte sich um und erkannte ihn sofort – dieser Magnetismus im Blick, der beinahe so intensiv schien wie vor mehr als zwei Jahrzehnten.
Bill , sagte sie.
Er küßte sie auf die Wange.
Eine volle Minute lang, vielleicht waren es auch zwei, sagte keiner von ihnen etwas. Bridget bemerkte ein Flattern ihrer Finger, das so heftig wurde, daß sie den Stiel ihres Weinglases mit beiden Händen halten mußte. Sie sah nach oben und sie sah nach unten. Sie wußte nicht, wohin sie schauen sollte. Bill hingegen starrte sie einfach an.
Bridget hatte den Moment als atemberaubend empfunden, Bill sagte später, es sei einer der traurigsten Augenblicke seines Lebens gewesen. Denn er dachte sofort an etwas, was Bridget in ihrer Verwirrung gar nicht wahrnahm: die unendlich vielen gemeinsamen Tage und Jahre, die sie versäumt hatten.
Obwohl Bridget oft über Zufall und Schicksal nachdachte, sprachen sie und Bill selten über dieses Klassentreffen, und wenn, dann stets mit gedämpften Stimmen, um nicht den Unmut der Götter auf sich zu ziehen, die ihnen erlaubt hatten, einander wiederzufinden. Beide wußten um den Verrat, den ihr Glück einschloß. Matt wußte noch nicht, daß Bill seine Frau verlassen hatte, um mit Bridget zusammensein zu können, und Bridget war klar, daß sie es ihrem Sohn bald würde sagen müssen. Sonst würde er es irgendwann von jemand anders erfahren – schlimmstenfalls von einer schadenfrohen Melissa. Bridget fröstelte plötzlich, es bestand jede Möglichkeit, daß Matt es dieses Wochenende erfahren würde. Sie hatte nicht gern Geheimnisse vor ihrem Sohn, sie paßten nicht in eine ehrliche Beziehung. Andererseits war sie keineswegs sicher, ob eine in jeder Hinsicht ehrliche Beziehung zwischen einer Mutter und einem fünfzehnjährigen Sohn überhaupt möglich war. Was für Geheimnisse zum Beispiel hatte Matt vor ihr?
Nach dem Klassentreffen waren Bill und Bridget monatelang nur über E-Mails in Kontakt geblieben. Bridget wollte sich nicht mit ihm treffen,
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