Eine Insel
ihn.
»Wer war die Frau, die mich gefüttert hat? Ich habe sie schon mal gesehen.«
»Ihr wirklicher Name lautet Fi-ha-el, sagt sie…«, antwortete Daphne, und Mau musste sich an der Wand abstützen. »Am Anfang haben wir sie ›die Unbekannte Frau‹ genannt und jetzt ›die Papierrebenfrau‹.«
»Das war sie? Aber sie sah doch ganz anders aus…«
»Ihr Mann war in einem der Kanus. Sie hat ihn sofort gefunden und selbst ans Ufer getragen. Ich wüsste zu gern, woher sie wusste, in welchem er war. Ich habe sie zu dir geschickt, damit sie sich um dich kümmert, weil… nun ja, weil es sein Bein war, das ich absägen musste.«
»Newton war der Größte!«, schrie der Papagei und wippte auf und ab.
»Und ich dachte, der Papagei wäre tot!«
»Ja, alle dachten, der Papagei wäre tot«, sagte Daphne, »nur nicht der Papagei. Gestern tauchte er wieder auf. Mit einer Zehe und vielen Federn weniger, aber ich glaube, er wird schon zurechtkommen, sobald sein Flügel verheilt ist. Bis dahin läuft er den Großvatervögeln hinterher. Das können sie wirklich überhaupt nicht ausstehen. Und ich habe angefangen, äh, an seiner Sprache zu arbeiten.«
»Ja, das dachte ich mir schon«, sagte Mau. »Was ist Njuten?«
»Newton«, korrigierte Daphne ihn geistesabwesend. »Weißt du noch, wie ich dir von der Royal Society erzählt habe? Er gehörte zu den ersten Mitgliedern. Er war der größte Wissenschaftler, der je gelebt hat, glaube ich, doch als alter Mann sagte er, dass ihm sein Leben so vorkam, als sei er nur ein kleiner Junge gewesen, der am Strand mit Steinchen gespielt hat, während das große Meer der Wahrheit noch gänzlich unentdeckt vor ihm lag.«
Maus Augen weiteten sich, und sie musste erschrocken feststellen, dass er schon seit sehr langer Zeit nicht mehr so jung ausgesehen hatte.
»Er stand auf diesem Strand?«
»Äh, wohl nicht auf diesem«, sagte Daphne. »Eigentlich geht es aber auch gar nicht um einen Strand. So etwas nennen die Hosenmenschen eine Metapher. Eine Art Lüge, die einem hilft, die Wahrheit zu verstehen.«
»Ach, so etwas kenne ich sehr gut.«
»Ja, das glaube ich«, sagte Daphne lächelnd. »Jetzt komm mit nach draußen an die frische Luft.«
Sie nahm seine Hand. Er hatte ein paar böse Schrammen, wusste aber nicht mehr, woher sie stammten, sein ganzer Körper fühlte sich steif an, und an der Stelle, wo sein Ohr gewesen war, pochte nun eine ausgefranste Wunde, aber es hätte viel schlimmer kommen können. Er erinnerte sich an die Kugel im Wasser, wie sie langsamer wurde und ihm in die Hand fiel. Wasser konnte sehr hart sein, was man deutlich zu spüren bekam, wenn man mit dem Bauch zuerst aus größerer Höhe aufklatschte, aber trotzdem…
»Komm schon!«, sagte Daphne und zerrte ihn ins Licht. Der Frauenhain war voller Menschen. Auf den Feldern wurde gearbeitet. Am Strand herrschte emsiges Treiben. Sogar ein paar Kinder spielten in der Lagune.
»Wir haben noch so viel zu tun«, sagte Mau kopfschüttelnd.
»Die Leute tun es bereits«, erwiderte Daphne.
Sie sahen schweigend zu. Bald würden die Leute Sie bemerken, und dann würden sie in die Welt zurückkehren, aber im Augenblick waren sie einfach nur Teil der Kulisse.
Nach einer Weile sagte das Mädchen: »Ich kann mich noch erinnern, als hier… nichts war und es nur einen Jungen gab, der mich nicht einmal gesehen hat.«
Und der Junge sagte: »Ich kann mich an ein Geistermädchen erinnern.«
Nach noch längerem Schweigen fragte das Mädchen: »Würdest du gerne in der Zeit zurückgehen? Wenn du könntest?«
»Du meinst ohne die Welle?« »Ja. Ohne die Welle.«
»Dann wäre ich heimgekehrt, und alle wären noch am Leben, und ich wäre jetzt ein Mann.«
»Wärst du lieber jener Mann? Würdest du gerne mit ihm tauschen?«, fragte das Geistermädchen.
»Statt ich zu sein? Statt von der Weltkugel erfahren zu haben?
Statt dir begegnet zu sein?«
»Ja.«
Mau öffnete den Mund zu einer Antwort und stellte fest, dass seine Stimme unter dem Ansturm der Worte erstickt wurde. Er musste warten, bis er einen Weg fand, der hindurchführte.
»Wie könnte ich dir antworten? Dafür gibt es keine Sprache. Da war ein Junge namens Mau. Ich sehe ihn in meiner Erinnerung, voller Stolz, weil er ein Mann werden sollte. Er weinte um seine Familie und verwandelte seine Tränen in Zorn. Und wenn er könnte, würde er ›Ist nicht geschehen!‹ sagen, und die Welle würde rückwärts rollen und wäre nie gewesen. Aber es gibt einen anderen Jungen,
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