Eine italienische Kindheit
Sittengeschichte der Insel. Es ging um einen Ehrenmord des 16. Jahrhunderts, dem die Baronin von Carini, Laura Lanza, und ihr Geliebter, Ludovico Vernagallo, zum Opfer gefallen waren. Der 1563 auf dem Schloss von Carini geschehene Mordfall erregte so großes Aufsehen, dass in Carini selbst eine Legende entstand, die in der Form einer Verserzählung in sizilianischem Dialekt mündlich weitergereicht wurde und sich schließlich in ganz Sizilien verbreitete. Im 19. Jahrhundert registrierte der sizilianische Volkskundler Salvatore Salomone Marino zahlreiche mündlich überlieferte Versionen dieser Legende. Sie lassen alle eine starke Sympathie für die Ehebrecherin erkennen und halten sich auch an die historischen Fakten: Dass nämlich der Vater der Ehebrecherin, Don Cesare Lanza, Graf von Mussomeli, im Einverständnis mit dem Gemahl, seinem Schwiegersohn, Don Vincenzo La Grua e Talamanca, Baron von Carini, die Exekution seiner Tochter vornahm. Schon früh aber scheinen die Lanza zur Wiederherstellung der Familienehre, die der Graf von Mussomeli durch den Mord an seiner verheirateten Tochter befleckt hatte, eine andere Version in Umlauf gebracht zu haben, welche die Tatsachen verfälschte. In dieser Version sollte der Graf seine noch gar nicht verheiratete Tochter getötet haben, als er sie mit ihrem Geliebten überraschte. Ein sizilianischer Gelehrter schrieb diese tendenziöse Version schon im 18. Jahrhundert auf, und diese erfreute sich dann auch großer Popularität bei den Literaten. Vor diese beiden Versionen gestellt, konstruierte Salomone Marino eine sogenannte«Urfassung», die aber im wesentlichen der gefälschten Version folgte. Die Lanza wurden so auch «wissenschaftlich» rehabilitiert.
Ich fand dagegen im Archiv von Simancas in Spanien ein Dokument, das die im Volk verbreitete Version bestätigt. Aus diesem Dokument geht eindeutig hervor, dass der Vater seine damals schon verheiratete Tochter erschoss, während der Ehemann gleichzeitig den Geliebten seiner Gemahlin tötete. Sie übten gemeinsam Rache. Nach dem geltenden Gesetz, das auf die im 12. Jahrhundert von den Normannen erlassenen Konstitutionen zurückging, musste der Ehemann, der die Ehebrecher in flagranti erwischte, seine Frau sofort töten, andernfalls drohte ihm die entwürdigende Strafe des Naseabschneidens. Der Vater hingegen durfte nur dann die Strafe vollziehen, wenn die Tochter noch unverheiratet war und seiner väterlichen Gewalt unterstand. 1564 entschied jedoch König Philipp II. von Spanien, dem der Fall vom sizilianischen Vizekönig, Herzog von Medinaceli, vorgelegt worden war, die beiden Mörder unbestraft zu lassen, mit der Begründung, dass sie ihre Ehre verteidigt hätten und der Vater zudem im Beisein des Ehemanns gehandelt habe. Mit dieser Studie glaubte ich, meine Rechnung mit Sizilien beglichen zu haben.
9. Enttäuschung
In Catania, dort wo die Geschichte meiner kindlichen Bewunderung für die deutschen Soldaten begonnen hatte, entdeckte ich 1945 plözlich und fast zufällig das andere Gesicht Deutschlands, das mir bisher verborgen geblieben war. Ich entdeckte es im Kino, als ich Roberto Rossellinis Film
Rom, offene Stadt
sah. Ich war mit meinem Bruder zusammen ins Kino gegangen, weil mich der Titel des Films neugierig gemacht hatte, der die Erwartung nährte, von der deutschen Besatzung zu handeln. Doch welch ein entsetzlicher Schock, als ich in diesem Film sah, dass die Deutschen in Rom das Gegenteil von dem, was ich gesehen und geglaubt hatte, getan hatten. Der Film zeigte, wie sie nicht nur Partisanen und Antifaschisten, die gegen sie kämpften, verfolgt und getötet hatten, sondern auch einfache Bürger, darunter eine Frau aus dem einzigen Grund, weil sie ein Liebesverhältnis mit einem Widerstandskämpfer hatte, und sogar einen Geistlichen, der einige Partisanen beschützt hatte. Das abstoßende Gesicht des Obersturmführers der Gestapo immer im Vordergrund, die stets schussbereiten Waffen, die von Maschinengewehren skandierten Grausamkeiten, dies alles ließ mich schaudern. Der Film hatte ganz den Anschein, wahre Geschichten zu erzählen, und wenn nicht, so war doch der historische Kontext zweifellos authentisch. Später erfuhr ich, dass der Regisseur zwei Episoden der römischen Resistenzazum Vorbild genommen hatte. Beim Geistlichen des Films handelte es sich in Wirklichkeit um zwei Personen, den Pfarrer Don Pietro Pappagallo, der Verbindungen zum Widerstand hatte und sich unter den 335 Italienern befand, die in den
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