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Eine italienische Kindheit

Eine italienische Kindheit

Titel: Eine italienische Kindheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Roberto Zapperi
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in Kastilien, wo im Schloss das Archiv der spanischen Monarchie, eines der wichtigsten für die Geschichte Europas im 15. und 16. Jahrhundert, aufbewahrt ist. Hier wollte ich forschen, und hier machte ich die Bekanntschaft von zwei spanischen Historikern, die mich eines Abends mit dem Auto in die nahe gelegene Stadt Valladolid mitnahmen, wo sie einen Freund treffen wollten. Er erwartete uns in einem schummerigen Lokal, in dem das Licht nur die Tische beleuchtete. Dieser Herr hatte während des Zweiten Weltkriegs länger in München studiert, wo ihm eine Rauchwolke in der Nähe der Stadt aufgefallen war. Er fragte einen Bekannten, ob irgendwo ein Brand ausgebrochen sei. Dieser antwortete ihm sarkastisch mit Anspielung auf das nahe Konzentrationslager Dachau, er brauche sich keine Sorgen zu machen, es handele sich nur um jüdischen Rauch. Der Spanier, der ein überzeugter Gegner der faschistischen Diktatur Francos war, belegte den deutschen Antisemitismus mit beißendem Spott: Die Deutschen liebten zwar die Tiere sehr, weniger aber die Menschen und die besonders wenig, wenn sie Juden waren. Zum Beweis führte er seine Spaziergänge im Englischen Garten an, wo er sehen konnte, wie die Hunde verhätschelt wurden. So habe er sich einen Spaß daraus gemacht, heimlich Steine auf das Hündchen einer Dame zu werfen, womit er diese sehr beunruhigt habe. Zum Schluss erklärte er, ein geschworenerFeind der «perritos alemanos» zu sein. Von der Vernichtung der Juden hatte ich in Italien nur Vages gehört und mir kein genaues Bild machen können. Doch bei der Rückkehr aus Spanien beschloss ich, der Sache auf den Grund zu gehen, und erkannte, dass der Spanier nicht übertrieben hatte. So bekam ich auch Kenntnis von der schrecklichen Razzia der Deutschen im römischen Getto, bei der am 16. Oktober 1943 1200 Juden gefangen genommen, auf Lastwagen verladen und zur Stazione Tiburtina gebracht wurden, wo sie in einen aus achtzehn Wagen – oder besser Viehwaggons – bestehenden Güterzug gepfercht und dann nach Deutschland gebracht wurden, um im Konzentrationslager Auschwitz vergast zu werden. Nur sechzehn Männer und eine Frau kamen wieder nach Rom zurück.
    Jetzt wusste ich genug. Aber was sollte ich mit meinen Erinnerungen anfangen? An der Realität dieser Erinnerungen konnte ich nicht zweifeln. Was ich gesehen hatte, war unumstößlich wahr, aber ich hatte mich geirrt, die Deutschen waren nicht so, wie ich geglaubt hatte, oder doch nicht nur so. Ich muss gestehen, dass es damals zu schwierig für mich war, die beiden gegensätzlichen Bilder Deutschlands zusammenzusetzen und zum Schluss zu kommen, dass sie beide wahr waren und man die Geschichte nicht auf so manichäische Weise spalten kann; dass es nicht möglich war, die Vergangenheit gleichsam mit der Axt in zwei Stücke zu teilen – hier das Wahre und dort das Falsche. Vielleicht waren auch die Deutschen nur Menschen und zeigten sich von verschiedenen Seiten, manchmal auch von der brutalsten und schrecklichsten.
    Ich fand Jahre später eine Erklärung im größten Buch, das ich je über den Krieg gelesen habe, Tolstois Roman
Krieg und
Frieden
. Es ist viel über diesen Roman gesagt und geschrieben worden, meist jedoch, ohne hervorzuheben, was dem Autor darin am wichtigsten war, nämlich die Natur des Krieges aufzuzeigen. Es ist eine so tiefe und schmerzvolle Reflexion, dass sie nur der direkten Erfahrung des Autors entsprungen sein kann. Im Mittelpunkt des Romans stehen der napoleonische Feldzug von 1812 gegen Russland und die Grausamkeit, die der Krieg unweigerlich in den Kämpfenden freisetzt. Mit tiefer Einsicht sieht Tolstoi in den Soldaten unfreiwillige Mörder, die einer mysteriösen Macht folgen, welche den Einzelnen beherrscht und ihn mit oder gegen seinen Willen einem höheren Mechanismus unterwirft. Eben diese geheimnisvolle Macht zwingt die Menschen jenseits ihres individuellen Willens dazu, andere Menschen zu töten. Unmöglich, ihr zu widerstehen oder zu versuchen, sich ihr zu widersetzen, es bleiben nur Resignation und die Bereitschaft, die Folgen auf sich zu nehmen, so erbarmungslos sie auch sein mögen. Für Tolstoi resultiert diese Unausweichlichkeit aus der Verflechtung der Umstände, der Richtung, welche die Dinge im Krieg nehmen. In diesem Sinn unterscheiden sich die Kriege nicht voneinander, trotz der historischen Bedingtheit jedes einzelnen. Alle Krieg sind gleich, egal wer ihn führt, und opfern immer Menschenleben ohne Ansehen des Geschlechts und des

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