Eine Japanerin in Florenz
unglückliche Teenager liefen davon, oft zu zweit, und tauchten nach etwa drei Tagen wieder auf, wenn sie kein Geld mehr hatten. In erstaunlicher Zahl gingen enttäuschte Männer im mittleren Alter einfach auf und davon und kehrten nie mehr zurück, weil ihnen über die Jahre die Persönlichkeit und die Träume abhanden gekommen waren. Frauen gab es in dieser Altersgruppe nur ganz wenige. Junge Frauen hingegen, so Mitte Zwanzig, verließen ihre Männer und suchten einen neuen Job. Sie brauchten nicht zu fliehen, konnten einfach gehen … abgesehen von illegalen Einwanderern. Ein paar jungen Frauen aus der Einwanderergruppe gelang die Flucht aus dem Sexgeschäft. Aber bei weitem nicht genügend. Wenn sie nur ein Gesicht hätte … oder Hände, ihre Hände hätten Forli so viel verraten können. Wenn Forli doch nur – Das Telefon klingelte. Forli.
»Gerade habe ich an Sie gedacht!«
»Haben sich wohl gefragt, wann ich endlich die Untersuchung der inneren Organe abschließe.«
»Nun ja …«
»Tut mir leid. Aber Sie wissen ja, wie das ist. Die Schießerei der Drogenbande, ein Selbstmord und der postoperative … Wie auch immer, ich hab die Untersuchung jetzt abgeschlossen und werde dem Staatsanwalt morgen meinen Bericht schicken. Aber ich habe etwas entdeckt, was ich Ihnen lieber gleich mitteilen wollte. Sie war schwanger, in der zehnten Woche. Da könnte durchaus das Motiv liegen. Sicherheitshalber werde ich die dna des Fötus bestimmen. Inzwischen habe ich auch mit der Analyse ihres Gebisses begonnen, aber Sie wissen ja, wie kompliziert und langwierig so etwas ist, es sei denn, der Zufall hilft uns weiter. Aber noch was anderes: Ich habe den Schädel gesäubert und genauer untersucht. Ich glaube nicht, daß es eine Weiße ist. Mongolischer Abstammung würde ich sagen. Neuerdings ist es möglich, die Rasse zu bestimmen. Das könnte Ihnen weiterhelfen. Aber leider kann ich das hier nicht tun. In London kenne ich einen Kollegen, der das übernehmen könnte. Ein ganz erstaunlicher Mann. Ich werde ihm gleich eine Probe schicken.«
»Aber der ganze bürokratische Aufwand …«
»Nein, nein. Den schenken wir uns. Ein kleiner Freundschaftsdienst. Sie kennen den Mann nicht. Einmal haben sie ihm Schädelfragmente gebracht, die auf einer Baustelle gefunden wurden. Er hat jede freie Minute über diesen Knochensplittern verbracht, bis er den Schädel wieder rekonstruiert und ein entsprechendes Gesicht modelliert hatte. Dann hat er den Schädel mit einer Frisur versehen, wie sie um die Zeit des von ihm berechneten Todeszeitpunkts modern gewesen war. Brachte ein Foto davon in die Zeitungen und in die Nachrichten und klärte so einen dreißig Jahre alten Mordfall auf. Einen Fall wie diesen hier löst er beim Frühstück zusammen mit dem Kreuzworträtsel. Er hat eine Schwäche für Kreuzworträtsel. Ich ruf ihn heute abend an – nein, lieber morgen abend. Da habe ich nichts vor, denn wenn der erst einmal anfängt, von seiner Arbeit zu reden, hat man besser nichts vor.
Der quatscht einfach jeden schwindlig. Aber ein wirklich guter Mann. Ein ausgezeichneter Mann. Einmal habe ich ihn in einem Fall um Hilfe gebeten – vielleicht erinnern Sie sich ja noch …«
Eine gute Viertelstunde später legte der Maresciallo den Hörer auf und rieb sich das Ohr. Es fühlte sich ganz heiß an. Seine Stimmung hatte sich deutlich gebessert, und als Lorenzini mit einigen in Tüten gesicherten Beweisstücken das Büro betrat, traf er einen gutgelaunten Chef an.
»Was haben Sie für mich?«
»Ihre Kleidung. Trocken und frisch aus dem Labor. Der Laborbericht wird uns keine Hinweise auf den Täter liefern, da die Sachen so lange im Wasser lagen. Aber sie sind alle in Florenz gekauft worden. Gute Qualität, bekannte Marken. Der Marmorfisch bringt uns auch nicht weiter, das Wasser hat alles abgewaschen. Sie schicken ihn dennoch zu Forli, damit er ihn mit der Wunde vergleichen kann. Das war’s auch schon. Haben wir bei den Vermißtenanzeigen mehr Glück?«
»Niemand dabei. – Ist jemand im Warteraum?«
»Ein älteres Ehepaar. Eine gestohlene – das heißt wahrscheinlich eher eine verlorene – Handtasche. Ihre Pässe waren darin, deswegen hat sie das Konsulat hierher geschickt.«
»Bestimmt Engländer.«
»Ich kümmere mich um sie.«
»Danke. Ich brauche ein paar Minuten Ruhe, um das hier alles durchzusehen.«
Als Lorenzini hinausging, erhaschte der Maresciallo einen Blick auf einen Schubkarren, den ein kleiner, drahtiger Mann an seiner
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