Eine Jungfrau Zu Viel
zu. Dann listete ich für Helena alles auf, was die liebevolle Tante in der Familie ihrer verstorbenen Schwester angerichtet hatte – na gut, alles, wovon wir wussten. »Terentia lag ständig mit ihrer Schwester, der verstorbenen Flaminica, im Streit über deren Liebhaber; gleichzeitig erkor Terentia den Sohn ihrer Schwester zu ihrem Liebling. Das ist in seiner Familie bestimmt nicht gut angekommen. Vor drei Jahren ermöglichte sie es Scaurus, zu Hause auszuziehen und auf ihrem Gehöft zu leben, womit sie sicherstellte, dass er nie dem Wunsch seines Vaters entsprach, in eine Priesterschaft einzutreten – und als er abhaute, ließ er seine Frau zurück. Wenn die Familie in Rom von Meldina weiß, die durch ihre Mutter mit Terentia verbunden ist, wird das ebenfalls nicht gut ankommen. Terentia macht jetzt noch mehr Ärger, indem sie Scaurus gegen den Willen seines Vaters zu ihrem Vormund ernennen will. Sie plant juristische Schritte, was zumindest den Namen des Exflamen an die Öffentlichkeit zerrt – wir können uns vorstellen, wie er einen reißerischen Bericht im ›Tagesanzeiger‹ über den Gerichtsprozess aufnehmen wird. Wenn der Prozess erfolgreich verläuft, könnte Scaurus der Gewalt seines Vaters entzogen werden.«
»Jungfrauen, die ihr Keuschheitsgelübde brechen, werden lebendig begraben«, schnaubte Mama. »Klingt so, als hätte man diese gleich nach ihrer Pensionierung irgendwo ganz tief verbuddeln sollen.«
»Ich hab das Gefühl«, erwiderte Helena, »dass alles, was diese Frau getan oder gesagt hat – oder was auch immer sie plant –, der Ursprung von Gaia Laelias Problemen ist.«
Wenn das stimmte, war eine verträumte Seele wie Scaurus kaum der richtige Vormund für die Angelegenheiten der Dame. Auch überzeugte er mich nicht in seiner Rolle als Vater einer verstörten und ziemlich isolierten Sechsjährigen. »Tja, wir werden wohl hinnehmen müssen, dass uns das alles nichts angeht. Keiner dieser Leute gehört zu meinen zahlenden Klienten.«
»Wann hat dich das je von etwas abgehalten?«, murmelte Mama.
»Das kleine Mädchen hat dich um Hilfe gebeten«, erinnerte mich Helena. Dann hielt sie nachdenklich inne. Ich kannte sie gut genug und wartete ab. »Irgendwas stimmt ganz und gar nicht an diesem juristischen Garn, das Scaurus gesponnen hat.«
»Für mich klang das durchaus vernünftig.«
»Bis auf eine Sache.« Helena war zu einem Schluss gekommen und sehr verärgert. »Marcus, das ist totaler Schwachsinn – eine Vestalin ist von den Regeln männlicher Vormundschaft ausgenommen!«
»Bist du dir sicher?«
»Selbstverständlich«, wehrte sie meinen Zweifel scharf ab. »Das ist eines ihrer berühmten Privilegien.«
Meine Mutter presste kurz die Lippen aufeinander. »Totale Freiheit von männlicher Einmischung! Der beste Grund, Vestalin zu werden, wenn ihr mich fragt.«
»Natürlich«, sagte Helena und wurde ruhiger, während sie sich für ihr Thema erwärmte, »ist es immer möglich, dass eine ehemalige Vestalin aus einem speziellen Grund einen Vormund braucht. Sie könnte zum Beispiel ihren Besitz in schamloser Weise verschleudern.«
»Oder sie ist wahnsinnig geworden!«, meinte Mama boshaft kichernd.
Aber dafür klang Terentia Paulla zu gut organisiert.
»Also«, überlegte ich laut, mit einem gewissen Maß an Gereiztheit, »ist Laelius Scaurus entweder ein weltfremder Trottel, der seine Tante völlig missverstanden hat – oder er hat mir einen Haufen dreister Lügen aufgetischt!«
Doch warum sollte er?
Ich hatte Scaurus gehen lassen, und wir waren schon zu weit gefahren, um umzukehren und ihn zur Rede zu stellen. Außerdem musste ich mich wirklich um Gaia kümmern. Morgen waren die Nonen des Juni. In zwei Tagen, wie jeder gewissenhafte Prokurator aus seinem Festkalender wusste, begannen die heiligen Tage der Vesta, einschließlich zweier großer Tage mit Zeremonien, genannt Vestalia. Die Frauen von Rom würden zum Tempel pilgern und die Göttin um ihre Gunst im kommenden Jahr bitten. Dann würde es umständliche Reinigungszeremonien für den Tempel und das angeschlossene Lagerhaus geben. In diesem Jahr begannen die Festlichkeiten mit der vom Pontifex Maximus durchgeführten Losziehung für die neue Jungfrau, wonach Gaias Schicksal wahrscheinlich besiegelt war. Selbst wenn ich versuchen wollte ihr zu helfen, blieben mir nur noch drei Tage. Danach konnte das Mädchen möglicherweise die Unterdrückung und den Streit in ihrer Familie hinter sich lassen, würde aber für die
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