Eine Katze hinter den Kulissen
mit dem Gedanken anzufreunden,
daß ich die Kassette hatte. Ich fragte sie, ob sie etwas
über den verletzten Finger wisse. Sie meinte, daß Dobrynin
sich wirklich einen Finger ausgerenkt hatte. Er hatte ihr erzählt,
er habe sich bei einer Schlägerei in Winnipeg verletzt,
während eines Gastspiels als Solotänzer beim Winnipeg
Regional Ballet. Der Finger war nie wieder richtig geheilt, sagte
Melissa, aber er habe es abgelehnt, sich deswegen in ärztliche
Behandlung zu begeben.
Ich legte auf und berichtete Tony, was Melissa
erzählt hatte. Es war schon komisch, daß dieser ausgerenkte
kleine Finger plötzlich Gewicht bekam. Ich hatte keinen Verband
bemerkt, als ich seine Leiche auf dem Balkon gesehen hatte. Der Verband
war mir auch nicht aufgefallen, als ich das Video zum ersten Mal ansah.
Warum? Ich vermutete, daß ich zu fixiert auf meine Theorie von
der unerwiderten Liebe gewesen war. Was war mir wohl noch alles
entgangen?
»Du siehst traurig aus«, bemerkte Tony.
»Das bin ich auch.«
»Warum?«
»Tony«, sagte ich und versuchte, dem
Gespräch eine andere Wendung zu geben, »weißt du
irgendwas über das Winnipeg Regional Ballet?«
»Ich nehme an, das ist in Kanada.«
»Ja, in den Great Plains, im Weizengürtel.
Diese Truppe ist einmalig in der Welt. Niemand kann sich erklären,
wie dieses winzige Provinzensemble aus einer kulturell nicht gerade
hoch entwickelten Gegend Jahr um Jahr so talentierte Tänzer und
Choreographen hervorbringen kann. Die Inszenierungen sind Weltklasse.
Aber ich wußte gar nicht, daß Dobrynin mit dieser Truppe
getanzt hat.«
»Er hat wahrscheinlich mit vielen Ensembles getanzt.«
»Ja, aber er hat sich den Finger bei einer Schlägerei in Winnipeg verletzt. «
»Ja und?«
»Tony, die besten Tänzer der Welt geraten
normalerweise nicht in Schlägereien. Dobrynin hat jede Menge
verrückte Sachen gemacht. Aber Tänzer vermeiden in der Regel
handgreifliche Auseinandersetzungen, gerade wegen der
Verletzungsgefahr. Genau wie Chirurgen.«
»Aber er ist ja offensichtlich doch in eine Schlägerei geraten.«
»Ja, darauf würde ich wetten. Also
muß es um etwas sehr Wichtiges gegangen sein. Aber Dobrynin war
doch alles egal, mal abgesehen von seinem eigenen Vergnügen,
oder?«
»Na ja, immerhin hat er die Katzen gefüttert.«
Ich nahm eines der Katzenspielzeuge aus Filz in die Hand und drehte es hin und her.
»Tony«, sagte ich, »du wirst eine kleine Reise machen.«
»Bitte, Schwedenmädel, bitte laß Gnade walten.«
»Also wirklich, Tony. Kanada ist nicht so weit weg. Nur ein paar Stunden.«
»Und wie? Mit dem Hundeschlitten?«
Ich holte das dicke Branchentelefonbuch hervor und
blätterte darin, bis ich die Nummer des Buchungsservice der Air
Canada gefunden hatte. Ich reichte Basillio das schwere Buch.
»Muß das sein? Ist das wirklich nicht zu vermeiden?«
Ich küßte ihn auf die Nase. »Ich
muß wissen, was da oben passiert ist«, flüsterte ich.
»Du hast versprochen, mir zu helfen. Erinnerst du dich?«
Tony griff nach meinen Handgelenken und legte meine Arme um seinen Hals. Dabei flüsterte er etwas.
»Oh«, sagte ich. »Na gut.«
19
Während Tony in Kanada war, verbrachte ich eine
unruhige Zeit. Aus einem unerklärlichen Grund schaute ich mir
immer wieder dieses Video an, auf dem Melissa und Dobrynin tanzten. Und
wenn ich nicht gerade damit beschäftigt war, kramte in den
vollgestopften Plastiktüten aus dem Schrank im Flur, holte das
alte Foto hervor und starrte es an: die Sirene Alice Nestleton, so
mondän und doch so unschuldig mit ihrem flachsfarbenen Haar. Ich
sah aus wie ein Sexsymbol aus dem 18. Jahrhundert. Ich fragte mich, wie
ich wohl damals auf Dobrynin reagiert hätte. Wäre ich ihm
verfallen wie die zahllosen anderen? Gott sei Dank hatte ich nicht in
der Ballettszene verkehrt, und unsere Wege hatten sich nie gekreuzt.
Und in der Zwischenzeit hatte ich erkannt, wie großartig
männliche Ballettänzer sein können.
Es war schon komisch: Ich hatte zwar den Eindruck, an
diesen Fall auf sehr professionelle Art herangegangen zu sein, aber
erst seit ich den Verband um die beiden Finger an Dobrynins rechter
Hand gesehen hatte, war ich voll bei der Sache. In meinem
Unterbewußtsein platzten langsam ein paar Blasen.
Blasen wie in Comics. In einer Blase war Betty Ann
Ellenville, in einer anderen Louis Beasley. Für jeden dieser
Ballettmenschen gab es eine Blase. Ich konnte sie sehen und dann
platzen lassen. Blasen für die Guten und die Bösen. Und eine
für
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