Eine Katze hinter den Kulissen
jedes berühmte
ausländische Ballettensemble, das in die Staaten kam, ist dort
aufgetreten.«
»Ja, aber Dobrynin war nicht alt genug, um jemals dort getanzt zu haben.«
»Das ist mir klar. Aber er war ein so komischer
Kauz, er könnte dieses Haus wegen seines Erinnerungswertes
ausgesucht haben.«
Tony blieb vor dem Fenster stehen. Er drehte sich um
und machte eine ausladende Handbewegung, als ob er einem Gemälde
den letzten Schliff verleihen würde. Denn fing er an zu lachen.
»Stell dir mal vor, daß sich in ein paar Jahren jemand
veranlaßt sieht, aus welchen Gründen auch immer, ein
saudämliches, sauteures Musical auf die Bühne zu bringen. Es
wird Lenny heißen - ach nein, das geht ja nicht, das gibt es ja schon - also Dobie! Und ich werde die Bühnenbilder entwerfen.
Ich sehe es schon vor mir. Stell dir vor, Alice, der
Vorhang öffnet sich vor einer dunklen Bühne. Ein einzelner
Spot beleuchtet den hinteren Teil. Auf der linken Seite ist Segeltuch
gespannt, meterweise hellgelbes Segeltuch. Und darauf ist ein
überdimensionaler erigierter Phallus gemalt, der sich aus einem
Bett von Ballettschuhen erhebt.«
Tony schüttelte sich vor Lachen.
»Was ist?« fragte er, als er sich etwas beruhigt hatte. »Gefällt es dir nicht?«
Ich hatte nicht mitlachen können, weil Tonys symbolträchtiges Bühnenbild für Dobie zu
nah an das herankam, was ich die ganze Zeit hinsichtlich des Lebens und
des Todes des großen Tänzers und Satyrs empfunden hatte.
»Die Vorstellung gefällt mir gut,
Tony«, sagte ich. »Ja, sie ist geradezu brillant. Und es
ist genau das, was ich denke: Dobrynin wurde wegen Sex ermordet, oder,
noch wahrscheinlicher, aus Liebe. Unerwiderte Liebe, perverse Liebe
oder unzureichende Liebe. Und ich glaube, daß Melissa Taniment
fähig gewesen wäre, ihn umzubringen.«
»Warte mal. Du hast doch gesagt, du glaubst, daß sie ihn geliebt hat.«
»Ja, davon bin ich überzeugt. Aber ich
glaube auch, daß er sie erpreßt und gedroht hat, er
würde ihrem Mann von ihrer Affäre erzählen.«
»Aber wenn er sie die ganze Zeit erpreßt
hat, warum hat sie dann nicht mit ihm Schluß gemacht. Wie kann
man denn Woche für Woche mit jemandem ins Bett gehen, der Geld von
einem erpreßt, und das jahrelang? Das ist doch unlogisch.«
»Vielleicht hat Logik nichts mir der Art von Leidenschaft zu tun, die sie für Dobrynin empfand«, konterte ich.
»Nun ja, es stimmt schon, dieser ganze Fall ist
nicht besonders logisch. Aber nach dem, was du mir über Melissa
erzählt hast, ist sie zu verzweifelt und zu zerbrechlich, um so
etwas zu tun. Es hört sich an, als ob sie all ihre Zeit damit
verbringt, Blumen in Büchern zu pressen. Enden nicht viele
Ballerinen so? Zuviel Verzicht, zuviel Disziplin, zu viele Stunden
Training - das macht das Gehirn kaputt.«
Er machte eine Pause, dann fügte er hinzu: »Abgesehen davon haben wir keine Beweise.«
»Doch. Wir haben die Videokassette«, sagte ich entschlossen.
»Das ist kein Beweis. Das ist ein Softporno.«
»Vielleicht nicht. Vielleicht ist da mehr dran,
als wir bemerkt haben. Vielleicht haben wir das Band nicht aufmerksam
genug angeschaut.«
Er legte den Kopf schief und schaute mich
argwöhnisch an. »Einen Moment mal, Alice. Willst du etwa
damit sagen, daß du das Video noch einmal anschauen willst, jetzt
gleich?«
»Genau.«
»Da gibt es aber einige Probleme. Erstens: Die
Kassette ist im Hotel. Zweitens: Wir brauchen einen Videorecorder, um
sie abzuspielen. Drittens: Du hast nicht mal einen Fernseher.«
Ich stand auf, ging zu ihm hinüber und kraulte
ihn sanft hinter dem einen Ohr, so wie ich das mit Bushy immer mache.
»Alles kein Problem, liebster Basillio«, sagte ich
zärtlich. »Erstens: Mit dem Taxi ist man im Handumdrehen in
deinem Hotel. Zweitens: Wir können einen Videorecorder in diesem
Laden auf der Third Avenue mieten. Ich habe mir schon einmal einen
ausgeliehen und weiß, wie man ihn anschließen muß.
Drittens: Ich habe sehr wohl einen Fernseher, und zwar in der
Küche, auf dem kleinen Servierwagen. Es liegt ein Handtuch
drüber.«
Er grummelte einen Moment, verzog gequält das
Gesicht, fluchte leise und schaute sich hilfesuchend um ... Und bis er
seinen Mantel angezogen hatte und halb aus der Tür war, sprach er
kein Wort.
»Hier«, sagte er. »Das ist für
dich. Ich habe es vor Wochen gefunden und vergesse immer, es dir zu
geben.«
Er gab mir ein altes, farbiges Polariodfoto und schloß die Tür hinter sich.
Ich betrachtete den Schnappschuß.
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