Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Eine Kerze für Sarah - und andere Geschichten, die das Herz berühren

Eine Kerze für Sarah - und andere Geschichten, die das Herz berühren

Titel: Eine Kerze für Sarah - und andere Geschichten, die das Herz berühren Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gerth Medien GmbH
Vom Netzwerk:
kaum noch an ihre Jugendzeit erinnern kann.
    Als sie ihr Bild auf der Rückseite einer Milchtüte entdeckt mit der Unterschrift: „Wer hat dieses Mädchen gesehen?“, bekommt sie einen großen Schreck. Aber mit den gefärbten blonden Haaren und bei dem ganzen Make-up und den vielen Piercings wird niemand in ihr dieses Kind erkennen. Außerdem sind die meisten ihrer neuen Freunde von zu Hause weggelaufen und in Detroit verpfeift niemand den anderen.
    Nach einem Jahr zeigen sich bei ihr die ersten Anzeichen einer Krankheit und sie ist erstaunt, wie schnell der Boss gemein wird.
    „Heutzutage kann man kein Risiko eingehen“, brummt er und bevor sie weiß, wie es ihr geschieht, sitzt sie ohne einen Pfennig Geld auf der Straße.
    Noch immer hat sie nachts ein paar Kunden, aber sie bezahlen nicht viel und sie braucht das ganze Geld für Kleider und Make-up. Als der Winter anbricht, schläft sie auf den Metallgittern vor den großen Geschäften. „Schlafen“ ist das falsche Wort – ein Mädchen im Teenageralter nachts in Detroit kann sich niemals entspannen. Dunkle Ringe liegen unter ihren Augen. Ihr Husten wird schlimmer.
    Eines Nachts, während sie wach liegt und angstvoll auf herannahende Schritte lauscht, sieht sie ihr Leben plötzlich mit ganz anderen Augen. Sie fühlt sich nicht mehr wie eine Frau von Welt. Sie fühlt sich wie ein kleines Mädchen, das sich in einer kalten und beängstigenden Stadt verirrt hat. Sie beginnt zu weinen. Ihre Taschen sind leer, doch sie hat Hunger und braucht einen Schuss. Sie zieht die Beine an und erschauert unter dem Zeitungspapier, mit dem sie sich notdürftig zugedeckt hat. Plötzlich durchzuckt sie die Erinnerung an ein Bild: Mai in Traverse City, wo eine Million Kirschbäume auf einmal blühen, ihr Hund jagt zwischen den Bäumen hindurch und rennt einem Tennisball hinterher.
    Gott, warum bin ich nur weggelaufen , sagt sie sich und sie hat das Gefühl, als würde sich ein Messer in ihr Herz bohren. Mein Hund zu Hause bekommt besseres Essen als ich. Sie schluchzt und weiß mit einem Mal, dass sie sich nichts sehnlicher wünscht, als nach Hause zurückzukehren.
    Dreimal ruft sie zu Hause an und dreimal meldet sich nur der Anrufbeantworter. Zweimal legt sie auf, ohne eine Nachricht zu hinterlassen, doch beim dritten Mal sagt sie: „Papa, Mama, ich bin es. Ich habe überlegt, nach Hause zu kommen. Ich nehme einen Bus, der morgen gegen Mitternacht ankommen wird. Wenn ihr nicht da seid, nun, dann werde ich im Bus bleiben und nach Kanada fahren.“
    Der Bus braucht sieben Stunden von Detroit nach Traverse City und in dieser Zeit erkennt sie die Schwachstellen in ihrem Plan. Wenn ihre Eltern nun gar nicht zu Hause sind und die Nachricht nicht bekommen haben? Hätte sie nicht lieber noch einen Tag warten sollen, bis sie mit ihnen hatte reden können? Und selbst wenn sie zu Hause waren, hatten sie sie nicht doch schon lange abgeschrieben und mittlerweile für tot gehalten? Sie hätte ihnen Zeit geben sollen, um den Schock zu überwinden.
    Ihre Gedanken überschlagen sich und sie bereitet eine Rede für ihren Vater vor. „Papa, es tut mir leid. Ich weiß, ich war im Unrecht. Es ist nicht deine Schuld; ich bin schuld daran. Papa, kannst du mir verzeihen?“ Immer und immer wieder spricht sie die Worte aus. Ihre Kehle ist wie zugeschnürt. Schon seit Jahren hat sie sich bei niemandem mehr entschuldigt.
    Seit Bay City fährt der Bus mit eingeschalteten Scheinwerfern. Kleine Schneeflocken fallen vom Himmel und legen sich auf den Asphalt, der von den Tausenden von Reifen bereits ganz abgefahren ist. Sie hat vergessen, wie dunkel es nachts hier draußen wird. Ein Reh springt über die Straße. Der Bus weicht ihm aus. Immer wieder eine Reklametafel. Ein Kilometerschild mit der Angabe, wie weit es noch nach Traverse City ist. Oh Gott.
    Als der Bus endlich in den Busbahnhof einfährt und mit quietschenden Bremsen zum Stehen kommt, verkündet der Fahrer über Lautsprecher: „Fünfzehn Minuten, Leute. Länger können wir uns hier nicht aufhalten.“ Fünfzehn Minuten, die über ihr Leben entscheiden. Sie überprüft in einem Taschenspiegel ihr Aussehen, richtet ihr Haar und leckt den Lippenstift von den Zähnen. Sie betrachtet die Tabakflecken an ihren Fingern und fragt sich, ob ihre Eltern das wohl bemerken werden, falls sie überhaupt da sind.
    Unsicher betritt sie den Busbahnhof von Traverse City. Sie hat keine Ahnung, was sie erwarten wird. Bestimmt nicht eine der tausend Szenen, die sie

Weitere Kostenlose Bücher