Eine kurze Geschichte der alltäglichen Dinge
noch ein Rätsel. Wenn man primitive Arten von Gerste, Reis oder Weizen mit ihren modernen Pendants vergleicht, sieht man die Verwandtschaft sofort. Doch nichts in der wilden Natur ähnelt auch nur im Geringsten dem modernen Mais. Genetisch ist sein nächster Verwandter ein flauschiges Gras namens Teosinte, doch über die Chromosomen hinaus gibt es keine erkennbare Verwandtschaft. Mais wächst als kräftiger Kolben an einem einzelnen Stängel, seine Körner stecken in schützenden steifen Hüllblättern. Eine Teosintenähre ist im Vergleich dazu nicht einmal zweieinhalb Zentimeter lang, hat keine Hüllblätter und wächst an einer Vielzahl von Stängeln. Als Nahrung ist sie für uns fast wertlos; ein Maiskorn enthält mehr Nährwerte als eine ganze Teosintenähre.
Es liegt jenseits unserer Vorstellungskraft, wie die Menschen aus einer derartig dünnen, wenig vielversprechenden Pflanze Maiskolben züchten konnten — ja, wie sie überhaupt darauf kamen, es zu versuchen. In der Hoffnung, die Angelegenheit ein für alle Mal zu klären, trafen sich 1969 Lebensmittelwissenschaftler aus aller Welt an der Universität von Illinois zu einer Konferenz »Zum Ursprung des Maises«, doch die Debatten wurden so aggressiv, bitter und sogar persönlich, dass sich die Versammlung in völligem Durcheinander auflöste und niemals ein Ergebnis veröffentlichte. Etwas Ähnliches hat man seitdem nie wieder versucht. Heute sind sich die Wissenschaftler aber einigermaßen sicher, dass Mais zum ersten Mal im mexikanischen Hochland kultiviert wurde, und hegen, dank der Wunderwaffe Genetik, schon gar keine Zweifel mehr daran, dass er auf irgendeine Weise aus Teosinte ins Dasein gelockt wurde. Doch wie das geschah, ist und bleibt ein Geheimnis.
Aber die Menschen haben es geschafft! Sie erschufen die erste voll von Menschen gemachte Pflanze der Welt — und zwar so gründlich, dass die Pflanze heute ohne uns gar nicht überleben könnte. Maiskörner lösen sich nicht spontan vom Kolben; wenn sie nicht abgestreift und ausgepflanzt werden, wächst kein neuer Mais. Nur weil man ihn kontinuierlich seit Tausenden von Jahren hegt und pflegt, ist er nicht ausgestorben. Die Erfinder des Mais erschufen nicht nur eine neue Pflanze, sondern auch — eigentlich aus dem Nichts — ein neues Ökosystem, das es sonst nirgends auf der Welt gab. Denn im Gegensatz zu Mesopotamien, wo schon überall natürliche Wiesen wuchsen und es bei der Züchtung in der Hauptsache darum ging, natürliche Kornfelder in besser gemanagte zu verwandeln, kannte man im ariden Buschland Mittelamerikas keine Wiesen und Felder. Menschen, die dergleichen noch nie gesehen hatten, erschufen sie! Das war, als hätte jemand in einer Wüste Rasenflächen imaginiert.
Heute kann man auf Mais weit weniger verzichten, als den meisten Leuten klar ist. Maisstärke wird bei der Herstellung von kohlensäurehaltigen Getränken, Kaugummi, Eis, Erdnussbutter, Ketchup, Autolack, Balsamierflüssigkeit, Schießpulver, Schädlingsbekämpfungsmitteln, Deodorants, Seife, Kartoffelchips,Verbänden, Nagellack, Fußpuder, Salatsoßen und Hunderten anderer Dinge verwendet. Um mit Michael Pollan zu sprechen: Es ist weniger so, dass wir den Mais fortentwickelt haben, als vielmehr so, dass der Mais uns fortentwickelt hat.
Im Moment allerdings steht zu befürchten, dass die Pflanze die sie schützende genetische Variabilität verliert. Fährt man heute an einem Maisfeld vorbei, sieht man, dass alle Stängel identisch sind. Sie sehen einander nicht nur extrem ähnlich, sie sind vor allem auch gentechnisch identisch. Gruselig! Die Replikanten leben in perfekter Harmonie, weil keiner mehr mit dem anderen ums Überleben kämpfen muss. Aber sie sind auch alle in gleicher Weise anfällig. Als 1970 die sogenannte Blattfleckenkrankheit überall in den Vereinigten Staaten den Mais vernichtete und man begriff, dass praktisch die landesweite Ernte aus Samen mit genetisch identischem Zellplasma bestand, geriet die Maiswelt in helle Panik. Wäre das Zellplasma direkt betroffen oder die Krankheit bösartiger gewesen, würden heute Ernährungswissenschaftler auf der ganzen Welt vor ein paar Teosintenähren sitzen und sich am Kopf kratzen, und wir würden alle Kartoffelchips und Eis essen, die nicht so schmeckten, wie wir es gewöhnt sind.
Das andere große Nahrungsmittel aus der Neuen Welt, die Kartoffel, stellt uns vor viele ebenso faszinierende Rätsel. Kartoffeln gehören zur Familie der Nachtschattengewächse, die, wie
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