Eine kurze Geschichte der alltäglichen Dinge
allseits bekannt, giftig sind. Sie strotzen in ihrer wilden Form von giftigen Glykoalkaloiden, eben dem Zeugs, das, in geringeren Dosen, Koffein und Nikotin den Pep verleiht. Um wilde Kartoffeln essbar zu machen, musste man das Glykoalkaloid auf ein Fünfzehntel bis ein Zwanzigstel des normalen Gehalts reduzieren. Da ergeben sich jede Menge Fragen, und die offensichtlichste lautet: Wie hat man das gemacht? Und woher wusste man, dass man es richtig anstellt? Wie merkt man denn, ob man den Giftgehalt um zwanzig oder fünfunddreißig Prozent oder irgendwas dazwischen gesenkt hat? Wie misst man, ob man wirklich weiterkommt? Aber vor allem: Woher wusste man, dass die ganze Übung sinnvoll war und am Ende ein ungiftiges, nahrhaftes Lebensmittel herauskam?
Eine ungiftige Kartoffel hätte natürlich auch spontan entstehen und vielen Generationen experimentelles selektives Züchten ersparen können. Doch selbst dann, woher wussten die Menschen, dass die Kartoffel mutiert war und dass unter all den giftigen wilden Kartoffeln um sie herum hier endlich eine war, die man ohne Gefahr für Leib und Leben verspeisen konnte?
Es bleibt dabei: Die Menschen in der Urzeit haben oft Dinge getan, die nicht einfach nur überraschend, sondern geradezu unfasslich sind.
Während die Mesoamerikaner Mais und Kartoffeln ernteten (und Avocados, Tomaten, Bohnen und ungefähr hundert weitere Pflanzen, die wir heute nur ungern missen würden), bauten die Menschen auf der anderen Seite des Planeten die ersten Städte. Und auch die sind mysteriös und verblüffend.
Wie verblüffend, zeigte sich einmal wieder bei einer Entdeckung in der Türkei im Jahre 1958. Da fuhr eines Tages der junge britische Archäologe James Mellaart mit zwei Kollegen durch die Einöde Zentralanatoliens und bemerkte einen unnatürlich aussehenden, »distelbewachsenen Buckel«, der sich über die rappeldürre Ebene zog. Er war gut fünfzehn Meter hoch und sechshundert Meter lang und bedeckte insgesamt eine Fläche von etwas mehr als 133 000 Quadratmetern — ein rätselhafter, ziemlich großer Hubbel in der Landschaft. Mellaart kehrte nach einem Jahr zurück, polkte probeweise ein wenig dort herum und entdeckte zu seinem Erstaunen, dass in dem Hügel eine uralte Stadt lag.
Die hätte es in Anatolien eigentlich gar nicht geben sollen. Uralte Städte kamen, wie sogar Laien wussten, in Mesopotamien und in der Levante vor, aber nicht in Anatolien. Doch hier war eine der allerältesten, womöglich die allerälteste Stadt der Welt mitten in der Türkei und von bisher nie erlebter Größe. fatal Höyük (was »gegabelter Hügel« bedeutet) war neuntausend Jahre alt, gut tausend davon durchgehend bewohnt gewesen und hatte zu Hochzeiten achttausend Einwohner gehabt.
Mellaart bezeichnete es als erste Stadt der Welt, und diesem Urteil verlieh Jane Jacobs noch einmal zusätzliches Gewicht und Aufmerksamkeit in dem schon genannten Die Ökonomie der Städte. Das ist aber in zwei Punkten inkorrekt. fatal Höyük war nämlich keine Stadt, sondern wirklich nur ein sehr großes Dorf. (Für Archäologen besteht der Unterschied darin, dass Städte nicht nur eine bestimmte Größe, sondern auch eine erkennbare Verwaltungsstruktur haben.) Relevanter allerdings ist, dass andere Gemeinwesen — Jericho im palästinensischen Autonomiegebiet, Ain Mallaha in Israel, Abu Hureyra in Syrien — nachweisbar beträchtlich älter sind. Nur erwies sich keines als seltsamer als fatal Höyük.
Vere Gordon Childe, Namensgeber der Neolithischen Revolution, erlebte diese Entdeckung leider nicht mehr. Kurz zuvor war er nach fünfunddreißig Jahren zum ersten Mal wieder zu Besuch in seine australische Heimat gefahren. Mehr als die Hälfte seines Lebens war er fort gewesen. Beim Wandern in den Blue Mountains sprang oder stürzte er in den Tod. Er wurde jedenfalls am Fuß eines Felsvorsprungs gefunden, der Govett's Leap heißt. Dreihundert Meter darüber fand ein Spaziergänger sein sorgfältig gefaltetes Jackett, darauf ordentlich abgelegt Brille, Kompass und Pfeife.
Was hätte Çatal Höyük Childe fasziniert, denn eigentlich passte dort nichts zusammen. Die Stadt hatte keine Straßen oder Gassen. Die Häuser drängten sich mehr oder weniger dicht aneinander. Diejenigen in der Mitte konnte man nur erreichen, wenn man über die sämtlichst unterschiedlich hohen Dächer anderer Häuser kraxelte — ein umwerfend unbequemes Arrangement. Es gab keine Plätze und Marktplätze, keine städtischen oder sonstigen
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