Eine kurze Geschichte der Menschheit (German Edition)
natürliche Auslese. Sie ließen nicht nur zu, dass Schwache überlebten, sondern sie wollten ihnen sogar das gleiche Recht zur Fortpflanzung geben. Daher gingen die Stärksten in einem Meer von minderwertigen Menschen unter, und die Menschheit degeneriere von Generation zu Generation immer weiter. Das Ergebnis könne nur ihr Aussterben sein.
Ein deutsches Biologielehrbuch aus dem Jahr 1942 erklärt in einem Kapitel mit der Überschrift »Die Lebensgesetze und der Mensch«, alle Lebewesen befänden sich in einem erbarmungslosen Überlebenskampf. Nachdem die Autoren beschreiben, wie Pflanzen um Lebensraum kämpfen und Käfer ihre Partner finden, kommen sie zu dem Schluss:
Der Kampf ums Dasein ist hart und unerbittlich, aber er allein erhält das Leben. Durch diesen Kampf wird alles das ausgemerzt, was lebensuntüchtig ist (Ausmerze), und umgekehrt alles das erhalten, was sich als lebenstüchtig erweist (Auslese) …
Die Naturgesetze sind unwiderleglich; die Lebewesen beweisen durch ihr Dasein ihre Richtigkeit. Sie sind auch unerbittlich. Wer ihnen widerstrebt, wird im Kampf ums Dasein ausgemerzt. Die Lebenskunde übermittelt also nicht nur Wissen über allerhand Tiere und Pflanzen, sondern zeigt uns auch die Gesetzlichkeiten auf, wie wir unser Leben führen müssen, und stählt uns in dem Willen, nach diesen Gesetzen zu leben und zu kämpfen. Sinn alles Lebens aber ist der Kampf. Wehe dem, der sich gegen die Naturgesetze versündigt.
Es folgt ein Zitat aus Hitlers Mein Kampf :
Indem der Mensch versucht, sich gegen die eiserne Logik der Natur aufzubäumen, gerät er in Kampf mit den Grundsätzen, denen auch er selber sein Dasein als Mensch verdankt. So muss sein Handeln gegen die Natur zu seinem eigenen Untergang führen. 71
22. Nationalsozialische Zeichnung (1933). Hitler wird als Bildhauer dargestellt, der den Übermenschen schafft. Der bebrillte liberale Intellektuelle ist entsetzt, welche Gewalt zur Erschaffung des Übermenschen nötig ist. (Man beachte auch die erotische Verherrlichung des menschlichen Körpers.)
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Zu Beginn des dritten Jahrtausends unserer Zeitrechnung ist die Zukunft des evolutionären Humanismus unklar. In den fast siebzig Jahren, die seit dem Sieg über Hitler vergangen sind, war es lange Zeit tabu, eine Verbindung zwischen dem Humanismus und der Evolutionslehre herzustellen und sich für eine biologische Aufrüstung des Menschen zum Übermenschen auszusprechen. Seit einiger Zeit kommen solche Projekte jedoch wieder in Mode. Heute spricht zwar niemand mehr davon, »minderwertige Rassen und Völker« ausrotten zu wollen, doch viele denken darüber nach, mithilfe neuester biologischer Erkenntnisse Übermenschen zu züchten.
Gleichzeitig tut sich ein immer größerer Graben zwischen den Glaubenssätzen des liberalen Humanismus und den neuesten Erkenntnissen der Biowissenschaften auf, der sich nicht mehr ignorieren lässt. Der liberale Rechtsstaat und die liberale Demokratie gehen von der Überzeugung aus, dass jedem Menschen eine heilige, unteilbare und unveräußerliche menschliche Natur innewohnt, die der Welt Sinn und Bedeutung verleiht und von der alle moralische und politische Macht ausgeht. Das ist nichts anderes als die christliche Vorstellung von der freien und unsterblichen Seele des Menschen, wenngleich in einem anderen Gewand. Doch in den vergangenen zwei Jahrhunderten haben die Biowissenschaften diese Vorstellung zunehmend in Frage gestellt. Im Innersten des Menschen haben sie keine Seele gefunden, sondern nur Organe. Unser Verhalten wird nicht vom freien Willen gesteuert, sondern von Hormonen, Genen und Synapsen, wie sie auch Schimpansen, Wölfe und Ameisen haben. Unser Rechtsstaat und unsere Demokratie kehren diese unbequemen Wahrheiten gern unter den Teppich. Wie lange wird es noch dauern, bis wir die Mauer zwischen der biologischen und der juristischen Fakultät einreißen?
68 W.H.C. Frend, Martyrdom and Persecution in the Early Church (Cambridge: James Clarke & Co., 2008), S. 536–37.
69 Robert Jean Knecht, The Rise and Fall of Renaissance France, 1483-1610 (London: Fontana Press, 1996), S. 424.
70 In der hier verwendeten Sanskrit-Form dürfte der Name europäischen Lesern am geläufigsten sein. In Pali, der Sprache der ältesten Überlieferungen, heißt er Siddhattha Gotama. Andere zentrale Begriffe des Buddhismus, zum Beispiel »Nirwana«, werden hier ebenfalls in Sanskrit wiedergegeben.
71 Marie Harm und Hermann Wiehle, Lebenskunde für Mittelschulen –
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