Eine Lady nach Maß
Ordnung? Hatte sie irgendeine gesellschaftliche Konvention verletzt, von der sie nichts wusste? Schreckte die Tatsache, dass sie eine Fremde war, die Menschen ab?
Ihr Magen rumorte und hinter ihren Augen pochte es heftig. Hannah seufzte und rieb sich die Schläfen. Was wusste sie davon, ein Geschäft zu führen? Ihr ganzes bisheriges Arbeitsleben hatte sie für jemanden geschneidert – Arbeitgeber, die einen festen Kundenstamm hatten. Die Kundinnen waren ihr einfach zugeteilt worden. Offensichtlich war ihre Überzeugung, dass ein Aushang im Lebensmittelgeschäft und ein Schild im Schaufenster ausreichten, völlig falsch und naiv gewesen. Was sollte sie nun also tun?
Missmutig stopfte sie sich den Rest ihres Sandwiches in den Mund. Und natürlich war genau das der Augenblick, in dem sich die Tür zu ihrem Geschäft öffnete. Erschrocken zuckte Hannah zusammen und versuchte hektisch, den Bissen hinunterzuschlucken. Sie schnappte sich ihr Wasserglas und nahm einige Schlucke, bis sie in der Lage war, den Sandwichrest hinunterzuwürgen. Dann wandte sie sich um, um ihre erste Kundin zu begrüßen.
„Guten Tag“, brachte sie atemlos hervor.
Louisa James stand in der Mitte des Raumes, an jeder Hand eine ihrer Töchter. Hannah hatte die Wäscherin gestern Morgen getroffen. Doch sie hätte nicht damit gerechnet, die schwer arbeitende Frau als ihre erste Kundin begrüßen zu dürfen.
Hannah ging um den Tresen herum, um die drei willkommen zu heißen. „Was kann ich für Sie tun?“
„Wir kommen vorbei, um Sie noch einmal hier in der Stadt zu begrüßen – und außerdem wollte ich, dass Sie meine Töchter kennenlernen.“ Louisas klare Stimme hallte laut in dem Raum wider. „Meinen Sohn Danny haben Sie ja schon gesehen. Das hier ist Tessa“, sagte sie und hob die Hand des größeren Mädchens, „und die Kleine ist Molly.“
„Was für eine Freude, euch kennenzulernen! Ihr seid zwei bezaubernde kleine Ladys. Danke, dass ihr mich besuchen kommt.“ Hannah versuchte, ihr Lächeln beizubehalten, auch wenn ihr Optimismus immer weiter sank. Louisa war offensichtlich nicht gekommen, um etwas zu kaufen oder zu bestellen.
Doch wie auch immer – sie hatte sich die Zeit genommen, um ihre neue Nachbarin zu begrüßen, ermahnte Hannah sich, und solch ein Geschenk sollte man fröhlich annehmen und nicht enttäuscht.
„Willkommen in Coventry, Miss Richards!“, rief das größere Mädchen überschwänglich. Sie entzog ihre Hand dem Griff ihrer Mutter, sprang vorwärts und schlang ihre Arme um Hannahs Taille.
Überrascht und gleichzeitig erfreut taumelte Hannah zurück und suchte nach ihrem Gleichgewicht. Sie musste kichern.
„Tessa!“, rief Louisa. „Renn Miss Richards doch nicht über den Haufen.“
Hannah sah Louisa über Tessas Kopf hinweg an und lächelte sie an. „Kein Problem. Eine Umarmung war genau das, was ich jetzt gebraucht habe.“
Die Wäscherin nickte und in ihren Augen stand Verständnis. „Die ersten Wochen sind die schwierigsten. Aber das Geschäft kommt schon ins Rollen.“
Tessa löste ihre Umarmung. Hannah sah wieder zu den Mädchen hinab. „Danke für das herzliche Willkommen, Miss Tessa. Du hast meinen Tag freundlicher gemacht.“
„Gern geschehen.“ Die Kleine lächelte so ansteckend, dass es Hannah unmöglich war, an ihrer Grübelei festzuhalten. Tessa nickte in Richtung ihrer kleinen Schwester und flüsterte: „Molly hätte dich auch gerne umarmt, Miss Richards, aber sie ist ein bisschen schüchtern.“
„Das ist schon in Ordnung.“ Hannah ging vor dem kleineren Mädchen in die Hocke. „Ich bin auch froh, dich kennenzulernen, Miss Molly.“
Langsam hob das Kind den Kopf.
„Würdest du dir gerne meine Kramkiste anschauen?“, fragte Hannah. Eine neue Idee entstand in ihrem Kopf. „Ich habe fast alle Farben des Regenbogens dort drin. Wenn du ein Stück Stoff findest, das dir gefällt, kann ich dir eine Puppe daraus machen. Würde dich das freuen?“
Molly hatte kaum angefangen zu nicken, als Tessa sie schon unterbrach.
„Kann ich auch eine haben, Miss Richards? Bitte?“
„Natürlich.“ Hannah führte die beiden Mädchen hinter den Tresen und zu einer ihrer Kisten. Sie öffnete den Deckel und zog ein Fach hervor, in dem unzählige Bänder und Stoffreste lagen. „Ihr könnt euch alles genau anschauen, wenn ihr mir versprecht, vorsichtig zu sein, damit die Bänder nicht verknicken.“
„Ja, Miss Richards“, antworteten beide Kinder eifrig.
Louisa trat neben Hannah.
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