Eine Lady nach Maß
reichte es Tessa. Das Mädchen befeuchtete das Ende des Garns mit ihrer Zunge und fädelte es dann geschickt ins Nadelöhr ein. Hannah sah erstaunt zu, wie die Kleine das Ende des Fadens verknotete und dann anfing, mit größter Präzision den Knopf festzunähen.
„Die meisten Mädchen in deinem Alter haben Probleme damit, den Faden einzufädeln, aber du machst das richtig gut. Nähst du mehr als nur Knöpfe an?“
Tessa schnitt den überschüssigen Faden ab und reichte ihn Hannah.
„Meine Mutter verspricht mir immer wieder, dass sie mir das richtige Nähen beibringen will, aber sie hat zu viel zu tun.“
„Wenn mein Geschäft ein wenig in Schwung gekommen ist“, überlegte Hannah, „kann ich dich vielleicht unterrichten. Natürlich nur, wenn deine Mutter einverstanden ist.“
„Kannst du mir beibringen, wie man schöne Kleider näht? Wie die, die in deinem Fenster hängen?“
Hannah lächelte über die Aufregung in Tessas Stimme und sammelte die Knöpfe zurück in die Schachtel.
„Wir würden mit ein paar einfacheren Sachen anfangen, beispielsweise mit einer Schürze.“ Tessa verzog ihr Gesicht, sodass Hannah ein Kichern unterdrücken musste. „Wie auch immer“, fuhr sie fort, „wenn du dich anstrengst und viel übst, kannst du bestimmt bald deine eigenen Kleider nähen, wenn du alt genug bist, um lange Röcke zu tragen. Dann können dich die Jungs nach der Kirche zu einem Picknick einladen.“ Hannah zwinkerte Tessa zu.
Plötzlich rief eine Stimme draußen Tessas Name und ließ die Zukunftsträume zerplatzen.
Tessa sprang auf. „Das ist Ma. Ich muss gehen.“
Sie schnappte sich das Hemd und rannte in Richtung Tür. Auf halbem Weg drehte sie sich noch einmal um. „Danke für deine Hilfe, Miss Richards.“
„Gern geschehen, Tessa. Und nenn mich doch bitte Hannah, ja?“
Das Mädchen nickte und stürmte aus der Tür.
Völlig unerwartet überkam Hannah eine große Sehnsucht. Die Sehnsucht nach einer Familie. Die meisten Frauen in ihrem Alter hatten schon einen Ehemann und Kinder, aber sie hatte einen anderen Weg gewählt – den Weg als Schneiderin und jetzt auch als Geschäftsfrau. Bedeutete das, dass sie den Traum, ein Heim mit jemandem zu teilen, aufgeben musste? Würde sie jemals ihr Herz verschenken? Bisher hatte sie noch nicht viel über diese Dinge nachgedacht. Ihr ganzes Leben lang hatte sie gewusst, dass sie Schneiderin werden wollte. Sie hatte hart dafür gearbeitet, um so gut zu werden. Jetzt fragte sie sich zum ersten Mal, ob ihr das für ihr Leben ausreichen würde.
Sie nahm ihren Nähkorb zur Hand. Obenauf lagen die Puppen, die sie für Tessa und Molly machte. Mollys war schon fix und fertig und bereit, um von ihrer kleinen Besitzerin adoptiert zu werden. Doch bei Tessas Puppe fehlten noch eine Schürze und eine Haube, die den weiß gebleichten Kopf bedecken würde. Hannah presste die Puppe an ihre Brust und tätschelte den kleinen Rücken. Emily hatte in ihrem letzten Brief genau beschrieben, wie die Wiege für ihr Kind aussah und natürlich auch die Hemdchen, die sie nähte. Mutter hatte schon zwei kleine Quilts für die Ankunft des neuen Erdenbürgers vorbereitet. Hannah legte die gesichtslose Puppe vorsichtig in den Korb zurück. Liebevoll deckte sie sie mit einem kleinen Stofffetzen zu.
Zum Glück kam in diesem Moment Ezra und lenkte sie von ihren Grübeleien ab.
„Die Kleine hat mich fast über den Haufen gerannt“, sagte er grinsend, als er in der Tür stand, die Tessa vor lauter Eile offen gelassen hatte. Er überschritt aber nicht die Schwelle. Die gleiche unsichtbare Barriere, die ihn davon abhielt, sich neben sie auf die Bank zu setzen, schien ihn auch jetzt zurückzuhalten.
Hannah schüttelte innerlich den Kopf. Dieser Mann schien Selbstvertrauen zu haben und achtete sorgfältig darauf, keine gesellschaftlichen Grenzen zu überschreiten. Warum wusch er sich nicht einfach? Ganz offensichtlich sehnte er sich nach menschlicher Gesellschaft, trotzdem vertrieb er mit seinem Körpergeruch alle, die ihm genau das bieten könnten. Hatte der Verlust seiner Frau ihn so getroffen, dass er nie wieder einen Menschen nahe an sich heranlassen wollte? Wenn das der Fall war, warum kam er dann immer wieder hierher und trank einen Kakao mit ihr?
Hannah schob ihre Überlegungen beiseite und lächelte ihn freundlich an. „Ich habe Ihr Hemd fertig, Ezra.“
Er schien unschlüssig, ob er sich darüber wirklich freuen sollte. „Ich hatte seit Jahren kein neues Hemd, Miss Hannah.
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