Eine Liebe auf Korfu
er stellt jeder von uns nach.“
„Ja, bedauerlicherweise“, stimmte Alessa wehmütig zu. „Vorhin sprach ich mit ihm über eine ernste Angelegenheit, die mich bekümmert. Offenbar wollte er mich trösten. Und so zwang er mir einen Handkuss auf.“
„Elender Schuft!“, schimpfte Frances. „Was meinst du, Alexandra? Wird Lady Trevick ihn bitten, die Villa zu verlassen?“
„Oh nein, so ernst nimmt sie die Sache nicht. Sie findet, der kleine Zwischenfall sollte uns eine Lehre sein, damit wir den Gentlemen in Zukunft etwa vorsichtiger begegnen.“
„Sind denn alle Männer so dreist?“, fragte Frances. „Lord Blakeney ganz sicher nicht.“
Dazu wollte sich Alessa nicht äußern.
„Nicht alle“, erwiderte Maria leise, den Blick auf ihre ge falteten Hände gesenkt. „Zweifellos gibt es auch echte Gen tlemen.“
Verstohlen musterte Alessa die anderen jungen Damen und sah ihre Vermutung bestätigt – keine ahnte auch nur, dass Maria in Mr. Harrison verliebt war. Vermutlich würden sie behaupten, er sei viel zu alt. Sie lächelte gerührt. Trotz ihrer eigenen Probleme freute sie sich, dass jemand in diesem Kreis die wahre Liebe gefunden hatte.
Während des Rückwegs führte Lady Trevick die kleine Wandertruppe an. Auf den Arm des Grafen gestützt, verwickelte sie ihn in ein Gespräch über die Kunst dezenten Flirtens. Lady Blackstone folgte ihr. Mit Benedicts Hilfe bewältigte sie die holprigen Stellen des Pfades und ließ nicht erkennen, was sie von der Taktik ihrer Gastgeberin hielt. Jede der jungen Damen versank in ihre eigenen Gedanken. Und Mr. Harrison schwieg, stets bereit, ihnen seinen Beistand anzubieten, falls sie ihn brauchten.
In der Villa angekommen, scheuchte Lady Trevick ihre Töchter und Frances in ihre Zimmer. Vor dem Dinner sollten sie sich ausruhen. Auch Benedict und Zagrede verschwanden. Ob sie ihre Differenzen im Billardsalon beilegen oder ihre Räume aufsuchen würden, wusste Alessa nicht. Entschlossen folgte sie ihrer Tante ins Wohnzimmer, das die Damen zu ihrer Zufluchtsstätte erkoren hatten.
„Tante Honoria?“
„Ja?“ Ihre Ladyschaft betrachtete sie mit der üblichen kühlen Zurückhaltung.
„Morgen wird Mrs. Street die Kinder hierher bringen, und ich möchte, dass du sie kennenlernst.“
„Wenn du das für richtig hältst, Alexandra …“
„Oh ja. Inzwischen habe ich beschlossen, nicht auf Korfu zu bleiben, sondern nach England zu fahren. Und da wir alle zusammen reisen werden, sollten die Kinder möglichst bald deine und Cousine Frances’ Bekanntschaft machen. Für die beiden wird sich sehr viel ändern.“
„Ja, so wäre es.“
Müsste es nicht heißen: So ist es?
„Wie ich höre, hält sich Lord Blackstone in Venedig auf, um eine diplomatische Mission zu erfüllen“, fügte Alessa hinzu.
„Gewiss, das stimmt.“
„Werden wir vor der Rückkehr nach England einige Zeit in Venedig verbringen?“
„Natürlich. Dorthin wären Frances und ich schon früher gefahren. Aber ich fühlte mich verpflichtet, herauszufinden, ob das Kind meines Bruders auf Korfu lebt.“
Verpflichtet … Alessa versuchte sich vorzustellen, was sie empfinden würde, wäre ihre Nichte oder ihr Neffe in einem fremden Land gezwungen, auf eigenen Füßen zu stehen. Vielleicht wirkte sich das kalte englische Klima auf die Seelen mancher Menschen aus, wenn sie lange genug unter diesem grauen Himmel lebten. „Ich verstehe. Wäre es nicht besser, wenn ich direkt nach England fahren würde?“
„Keinesfalls! Damit würdest du unnötige Kommentare heraufbeschwören. Natürlich wirst du mich nach Venedig begleiten. Sobald Lord Blackstones Mission beendet ist, reisen wir gemeinsam nach England.“
„Aber – Tante Honoria …“
„Widersprich mir nicht! Es wäre höchst unschicklich, wenn du allein reisen würdest. Zweifellos würde das ein schlechtes Licht auf unsere Familie werfen.“
„Ja, Tante“, stimmte Alessa tonlos zu. Wenn ich Papas Erbe beansprucht habe, will ich möglichst schnell einen eigenen Hausstand gründen. Den Druck dieser Respektabilität würde ich nicht ertragen.
Beklommen senkte sie den Kopf. Warum hatte sie Benedict begegnen müssen? Noch vor Kurzem war ihr Leben so einfach gewesen. Hart, aber einfach … Umgeben von Menschen, die sie liebte, zufrieden mit ihrer Arbeit, hatte sie sich ihres Daseins gefreut.
Nun gehörte sie einer neuen Familie an. Irgendwie musste sie ihre Verwandten lieb gewinnen. Sie würde lernen, sich in einer neuen Gesellschaft
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