Eine Liebe fürs Leben
bereisen.
„Ich habe dich nicht belogen. Ich habe nur zugelassen, dass deine Fantasie ein bisschen mit dir durchgeht, denn sonst wäre alles viel komplizierter geworden.“
Mein Gott, wie naiv sie damals doch gewesen war! Charlotte runzelte nachdenklich die Stirn, während sie langsam aus ihren Erinnerungen wieder auftauchte und der Nebel draußen sich allmählich ein wenig lichtete. Es würde einer dieser dunklen Tage werden, der einen daran erinnerte, dass gleißender Sonnenschein im Januar eine Seltenheit war. Noch dazu herrschte eisige Kälte.
Die Fahrt zu dem Büro im Norden dauerte etwas länger als anderthalb Stunden, und als sie endlich dort ankam, hatte sie wieder zu ihrer gewohnt souveränen Ruhe gefunden, sodass niemand auf die Idee gekommen wäre, dass sie die vergangenen neunzig Minuten damit zugebracht hatte, an einige äußerst unangenehme Details ihrer Vergangenheit zu denken.
Aubrey, der Besitzer der Agentur und ihrer fünf Filialen, entschuldigte sich mindestens hundertmal dafür, dass er sie aus dem Büro in London herzitiert hatte.
„Aber du bist nun mal die Expertin für große alte Häuser“, erklärte er.
„Das ist doch selbstverständlich, Aubrey. Es bereitet mir keine Umstände.“ Ha, es war ein großer Umstand! Auf ihrem Schreibtisch türmte sich die Arbeit, und ein paar heikle Abschlüsse erforderten ihre Anwesenheit. Doch Aubrey hatte ihrer Karriere auf die Sprünge geholfen, und sie verdankte ihm unendlich viel. Nicht viele Leute hätten sie eingestellt, im vierten Monat schwanger, ohne Uniabschluss und ohne Erfahrung im Verkauf von Immobilien, egal ob groß oder klein. Doch er hatte es getan.
„Wie geht es deiner wundervollen Tochter? Hat sie schon einen Freund? Ha, ha, kleiner Scherz.“
Charlotte lächelte und folgte Aubrey in sein Büro. „Ich habe ihr gesagt, dass sie sich Männer aus dem Kopf schlagen soll, bis sie mit dem Studium fertig ist.“ Sie setzte sich auf einen Ledersessel ihm gegenüber und griff nach den Papieren, die das betreffende Haus genau beschrieben.
„Mein liebes Mädchen, du darfst nicht zulassen, dass deine eigenen Erfahrungen dich beeinflussen …“
„Ich versuche es ja, Aubrey, aber es ist nicht leicht. Kommen wir jetzt zu dem Haus. Ist es das? Wow!“
„Ja, genau: Wow! Wir haben erst vor fünf Minuten alle Details ausgedruckt. Um genau zu sein …“, er lehnte sich zurück und verschränkte die Hände auf seinem durchaus beträchtlichen Bauch, „… ist es bislang noch nicht mal auf dem offenen Markt.“
„Und du hast jemanden, der interessiert ist?“
„Mehrere, wenn ich ehrlich bin.“
„Dann ist es wohl ein Ammenmärchen, große Landhäuser ließen sich nicht mehr verkaufen.“
Charlotte blätterte durch die Hochglanzbroschüre, die das Objekt in all seiner Pracht zeigte. Dabei wünschte sie sich, sie hätte die Bemerkung über Gina und mögliche Freunde nicht gemacht. Sie wollte nämlich nicht den Eindruck erwecken, sie wäre verbittert. Die meiste Zeit über gelang ihr das auch, doch Aubrey gehörte zu den wenigen Menschen, die von der schlimmen Geschichte mit Riccardo wussten. Außerdem war er Ginas Patenonkel, und damit besaß er das Recht, seine Meinung zu äußern, auch wenn er das nicht oft tat. Sie steckte die Broschüre in ihre Aktentasche und war sich deutlich bewusst, dass Aubrey sie mit echter Sorge ansah. Allerdings war sie jetzt nicht in der Stimmung für ein tief greifendes Gespräch über ihr Gefühlsleben.
„Triffst du dich immer noch mit diesem jungen Mann?“
Charlotte stand auf und warf ihm einen vielsagenden Blick zu.
„Ich bin doppelt so alt wie du und daher in der Lage, dir ein paar Lebensweisheiten auf den Weg zu geben. Betrachte es als Vorrecht des Alters“, bemerkte Aubrey, stand ebenfalls auf und legte einen Arm um ihre Schulter.
„Mit Ben gehe ich es langsam an“, erklärte Charlotte. „Er ist ein netter Kerl, aber ich will nichts überstürzen.“
„Kluges Mädchen. Also gut, dann. Wahrscheinlich bin ich schon wieder weg, wenn du zurückkommst. Alle Informationen findest du in der Mappe. Bei dem Interessenten handelt es sich um eine Frau. Ruf mich an und sag mir, wie es gelaufen ist. Und lass uns ein Wochenende finden, an dem du uns mal wieder mit der Kleinen besuchst. Diana sagt, dass es viel zu lange her ist, seit sie euch das letzte Mal gesehen hat!“
„Wird gemacht.“
„Natürlich kannst du gerne den jungen Mann mitbringen …“
„Darüber muss ich noch nachdenken.
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