Eine Liebe in Paris
freundschaftlich an und sagte: »Keine Sorge, ich lasse dich schon abschreiben. Du hast wahrscheinlich einfach nichts verstanden, als Ducreux den Test angekündigt hat.«
»Ja, wahrscheinlich.«
»Oder soll ich dir was abgeben? Dann bestehst du den Test auch unvorbereitet.«
»Was abgeben?«, fragte ich erstaunt.
»Mein Arzt hat mir gerade neue Tabletten verschrieben. Die sind super. Ich nehme sie abwechselnd und bekomme dadurch genau das richtige Gleichgewicht zwischen wach und entspannt«, sagte sie ganz selbstverständlich.
Ich verstand nur Bahnhof. »Was meinst du damit?«
Solène ließ eine Hand in ihre Schultasche gleiten und zog zwei Tablettenpackungen hervor.
»Sie sind harmlos, aber so weiß ich, dass ich es schaffen kann.«
»Was willst du denn schaffen?« Musste man wegen eines Tests in Geschichte so nervös sein?, wunderte ich mich.
»Na, am Ende dieses Jahres stehen doch die Aufnahmeprüfungen in den
Grandes Écoles
an, unseren besten Unis. Die schaffe ich nur, wenn ich im Jahrgang zu den Allerbesten gehöre. Und dafür brauche ich die Tabletten einfach. Manchmal legt meine Mutter sie mir schon am Morgen neben meinen Frühstücksteller.«
Ich schwieg bestürzt. Die Vorstellung, dass meine Mutter mir Medikamente geben würde, damit ich gute Noten für irgendeine Aufnahmeprüfung schreiben konnte, war erschreckend.
»Willst du eine von jeder? Ich habe genug.«
Sie reichte mir die Packungen.
»Nein danke, irgendwie schaffe ich das schon. Und außerdem wird der Test bei mir ja nicht gewertet.«
Solène zuckte mit den Schultern. »Wie du meinst.« Sie begann, ihre Stifte für den Test bereitzulegen.
»Solène?«
»Ja?«
»Machen das alle?«
»Was?«
»Na, solche Tabletten nehmen, um genau das Gleichgewicht zwischen wach und entspannt zu erreichen und um zu den Besten im Jahrgang zu gehören, die dann eine Aufnahmeprüfung bestehen?«
Solène überlegte kurz. »Ja, das machen alle. Wenn du nicht in die
Grandes Écoles
kommst und auf eine normale Uni gehen musst, dann fängst du schon ganz falsch mit deiner Karriere an. Eben nicht oben, verstehst du?«
Meine Karriere! Ich hatte keinen blassen Schimmer, was ich einmal werden wollte – außer Malerin, natürlich.
»Wo fängst du denn an, wenn du auf eine normale Uni hier in Frankreich gehst?«
»Unten«, sagte Solène knapp und stand auf, denn Monsieur Ducreux hatte den Raum betreten.
Marie klopfte an meine Zimmertür, öffnete sie und steckte ihren Kopf zu mir herein, ehe ich antworten konnte. Sie lächelte mich freundlich an, und ich bemerkte, dass sie sich schon für die
Vernissage
bereit gemacht hatte. Ich stand imHöschen und BH vor meinem Schrank, aber das war mir vor ihr nicht peinlich, denn als ehemalige Tänzerin hatte sie sicher ein sehr entspanntes Verhältnis zum Nacktsein.
»Was ziehst du an?«, fragte sie mich, als sie hereinkam.
»Ich weiß es immer noch nicht«, seufzte ich und musterte dabei diskret ihr Outfit. Was für eine Figur sie noch hatte, das musste all die Disziplin und all das Modellstehen machen. Sie hatte ein enges Kleid an, dessen Farbe zwischen Rosé und Grau changierte und zu ihrem dunklen Haar, den roten Lippen und der warmen olivfarbenen Haut einfach sensationell aussah. Außer dem Samtband mit dem goldenen Kreuz um ihren Hals trug sie keinen Schmuck, nicht einmal eine Armbanduhr. Ich fühlte mich plötzlich wie ein Trampel neben ihr, aber sie trat zu mir und legte mir freundschaftlich den Arm um die Schulter.
»Du musst dir nicht so viele Gedanken machen, Ava. Du bist jung, da ist es doch egal, was du anhast, und außerdem siehst du in einem Müllsack besser aus als andere in
Couture
. Glaub mir. Was gäbe ich dafür, noch einmal sechzehn zu sein.«
»Wirklich?«
Sie überlegte kurz. »Ja, ich wäre gerne noch einmal sechzehn, aber nur wenn ich wissen dürfte, was ich heute über die Männer und die Welt weiß.«
»Das klingt erschreckend.«
Sie lachte. »Stimmt. Die Jugend muss an junge Leute verschwendet werden, das macht sie ja so schön. Also, lass uns deinen Kleiderschrank durchforsten.«
Mit geübten Fingern ging sie die paar Kleider durch, die an den Bügeln hingen, sah dann noch durch die gefalteten Pullover und runzelte nachdenklich die Stirn, ehe sie ihre Wahl traf.
»Ich würde sagen, du ziehst diese Hose hier mit den weiten Beinen an,
très
Marlene Dietrich. Das betont deine schmale Taille und kaschiert deine breiten Hüften. Und dazu …« Ihre Finger streiften wieder über die
Weitere Kostenlose Bücher