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Eine Liebe zu sich selbst, die glücklich macht (German Edition)

Eine Liebe zu sich selbst, die glücklich macht (German Edition)

Titel: Eine Liebe zu sich selbst, die glücklich macht (German Edition)
Autoren: Margarete Mitscherlich
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bewusst ist, den quälen meist Schuldgefühle. Wenn man sich dann noch daran erinnert, dass es dem oder der Toten gegenüber auch zwiespältige Gefühle gab, müssen diese weggeschoben werden, oder sie führen zu depressiven Selbstvorwürfen. Du bist nichts wert, du bist schuldig, hast nicht genug getan, und vieles mehr. Das kann der Beginn einer Melancholie sein, von der man sich nur mit Hilfe von Trauerarbeit erholt.
    Trauerarbeit
    Mit dem Begriff der Trauerarbeit wird in der Psychoanalyse ein seelischer Vorgang bezeichnet, der auf den Verlust eines nahestehenden Menschen folgt; Trauerarbeit ist eng mit Erinnerungsarbeit verbunden, man führt sich Szenen aus dem Leben mit dem verstorbenen Menschen noch einmal oder viele Male vor Augen. In der Trauer- und Erinnerungsarbeit ist, wie ich schon sagte, ein jeder auch mit Wut und Schuldgefühlen konfrontiert. Er oder sie erinnert sich nicht nur an den anderen, sondern auch an die eigenen Gefühle, das eigene Versagen, die eigenen Zwiespältigkeiten. Langsam lindert sich der akute Schmerz über den Verlust. Das Interesse an der Außenwelt wird wieder wach, mit der Zeit gelingt eine Loslösung von dem verstorbenen Menschen, mit dem man sich gleichzeitig partiell identifiziert. Eine langsam sich vollziehende Gegenüberstellung mit der Wirklichkeit dieser Vergangenheit geht vor sich.
    Schmerz
    Wenn man an die Milderung eines Wundschmerzes denkt, der an die Grenzen des Erträglichen geht, ist es beruhigend zu wissen, dass der Schmerz mit der Zeit vergeht. Die Trauer um das verlorene Glück kann bodenlos sein, vor allem wenn man glaubt, an dem Verlust mitschuldig zu sein. Aber auch das Erinnern hieran verliert erst im Laufe der Trauerarbeit seinen stechenden Schmerz, und da ist es ebenfalls gut, dass die Zeit die Wunden heilt. Aber die Erinnerung an diesen Schmerz bleibt. Das Wissen über diesen Schmerz mag Menschen am Leben halten, wie Zähne, die ihren Nerv verloren haben und nicht mehr schmerzen, tot sind. Wenn auch die schmerzenden Erinnerungen nicht mehr so intensiv erlebt werden, dass man am liebsten auf der Stelle sterben möchte, glaube ich doch, dass ein Mensch ohne das Wiedererleben seiner Schmerzen geistig und seelisch nicht mehr lebendig ist. Trauerarbeit ist ein Stück weit auch Selbsterhaltungsprozess.
    Sein Kind von sich gewiesen zu haben, als es des Schutzes vor KZ-Schergen bedurfte [90] , ist ein Erlebnis, so unerträglich, dass man sich von ihm mit Hilfe der Trauer, der stetig wiederholten Erinnerung nicht – auch nicht langsam – zu lösen vermag. Ein solches Erlebnis führt auch zu der Vorstellung, dass dieses völlig hilflose Kind, zumal wenn es geschlagen wurde, Schuldgefühle hat, zu denen es keine Distanz entwickeln kann. Es muss jenseits dessen liegen, was ein Mensch ertragen kann, wenn einer Mutter ein Kind unter solchen Umständen genommen wird. Solche Ereignisse, die in Auschwitz zum Alltag gehörten, können nicht durch Trauerarbeit »bewältigt« werden.
    Der Tod eines Kindes, die beschriebene verzweifelte Situation, das sind sicherlich Erlebnisse, die man nur vergessen, nur verdrängen wollen kann. Wenn man sich an sie erinnert, erzeugen sie immer wieder so akute Schmerzen, dass man glaubt, wahnsinnig zu werden. Menschen, die solche Situationen erlebt haben, hilft nur Verdrängung. Diejenigen, die in Auschwitz waren und ihre Verwandten verloren haben, gerade Mütter mit Kindern, müssen verdrängen, um am Leben zu bleiben. Doch handelt es sich um einen fragilen Prozess, der jederzeit zusammenbrechen kann. Diese Menschen geraten an den Rand des Suizids, an den Rand des Wahnsinns.
    Bei den Tätern ist das anders. Wir wissen ja, dass es für die Täter viel leichter ist zu verdrängen als für die Opfer. Das waren erwachsene Menschen, deren Über-Ich durch die Naziideologie korrumpiert war. Wer tun konnte, was in den KZs täglich getan wurde, war zur Einfühlung, zur Identifizierung mit den Opfern unfähig. Das korrumpierte Über-Ich hat offenbar eine völlige seelische Verhärtung zur Folge. Solche Menschen erinnern sich auch nicht an die eigenen Verletzlichkeiten, was zur Trauerarbeit gehören würde. Sie werden offenbar zu Menschen, die mit Erfolg ablehnen, eigene Gefühle, sofern sie anders sind als die vorgeschriebenen, zu kennen. Ihre Verleugnung ist total, wie später auch die Abwehr der Erinnerung. Sie haben ja nicht ihr Liebstes verloren, sondern nur »unwertes Leben« umgebracht, was man aber nicht kann, ohne auch seine Gefühlswelt,
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