Eine Liebesehe
sie antwortete nicht, und als eine Woche nach der andern verstrich, ohne daß er von ihr hörte, und als ihm klar wurde, daß er keine Antwort erhalten würde, fühlte er sich verletzt. Es nahm ihn wunder, warum sie ihm nicht schrieb. Ob sie ihn wohl vergessen hatte?
Der wirkliche Grund kam ihm nicht in den Sinn. Als Ruth seinen Brief erhielt, war sie so betrübt, daß nichts sie dazu bewegen konnte, ihm zu antworten. Sie vermochte seine Schrift größtenteils nicht zu entziffern. Es war eine schöne Handschrift, aber für sie, die an die deutliche, kindliche Schrift der weniger Gebildeten gewöhnt war, fast ganz unleserlich. Mit der instinktiven Geheimtuerei des Ungebildeten, die sie bestimmte, alles in ihrem Leben für sich zu behalten, zeigte sie keinem Menschen den Brief. Stundenlang saß sie in ihrer Dachkammer und rätselte über dem Schreiben, schrieb jedes kostbare Wort nieder, das sie entziffern konnte. Nachdem sie gelesen hatte, was sie zu lesen vermochte, beschloß sie betrübt, den Brief nicht zu beantworten. Ihre Schrift bewirkte doch nur, daß er auf sie herabsah, und ihre Rechtschreibung ließ viel zu wünschen übrig. Sie hatte nur fünf Klassen in der einräumigen Landschule besucht, und dann hatte ihr Vater gesagt, sie sei zu Hause unentbehrlich, denn in jenem Winter war ihre Mutter die steinerne Kellertreppe hinuntergefallen und hatte sich das Bein gebrochen.
›Ich stehe in jeder Weise zu sehr unter ihm‹, sagte sie zu sich.
Deshalb faltete sie seinen Brief ganz klein zusammen und nähte ihn in ein rotes Seidenband, das sie sich als Talismann an einer Schnur umhängte.
Hätte sie ihm geschrieben, so wäre er durch ihren Brief vielleicht wirklich abgekühlt worden; so aber schien es ihm, daß er sie wiedersehen müsse, wenn auch nur, um sich zu überzeugen, daß er sie nicht liebte. Absichtlich verglich er sie manchmal mit Elise. Nachdem Elise den ganzen Winter hindurch gewartet, hatte sie im März plötzlich ihre Verlobung mit einem Engländer, den niemand kannte, verkündet. Sie setzte William eines Tages, als sie ihn auf der Straße traf, brüsk davon in Kenntnis. Sie sei soeben wieder in seiner Ausstellung gewesen, sagte sie.
»Aber du hast nichts Neues mehr gemalt«, fuhr sie fort. »Ich gehe mitunter hin, um zu sehen, ob neue Bilder von dir da sind.«
»Ich weiß«, erwiderte er beschämt, »und ich kann dir keine Erklärung abgeben. Ich möchte brennend gerne malen, aber wenn ich die Palette zur Hand nehme, ist der Drang verflogen.«
»Du findest hier nichts, das dich inspiriert.« Sie ließ die Feststellung so endgültig klingen, als wäre dies etwas, das sie entdeckt hatte. Und dann sprach sie fast pausenlos weiter: »Ich dachte schon, daß ich dich heute vielleicht treffen würde. Ich wollte dir nämlich als erstem mitteilen, daß ich mich verlobt habe, und zwar mit Ronnie Bertram – du kennst ihn nicht. Er ist Engländer, der jüngste Sohn von Sir Roger Bertram. Wir werden nach der Hochzeit in London leben.«
Sie sagte das ganz ruhig, wie sie da vor ihm stand; der Wind ließ ihren roten Rock flattern und peitschte den großen Pelzkragen an ihrer schwarzen Jacke. Sie hob die Hand, um ihren kleinen roten Hut festzuhalten, und in diesem Augenblick gewahrte er, wie unvergleichlich schön sie war mit ihrem dunklen Haar, den Bernsteinaugen, dem blassen Gold ihrer Haut, dem roten Mund. Er bemerkte auch, daß sie vor dem Schaufenster eines Blumenladens stand, so daß hinter ihr lauter Blumen waren. Ob dies auf Absicht beruhte, vermochte er nicht zu sagen. Er wußte nie, ob das, was Elise tat, nicht beabsichtigt war, und er fühlte sich wieder abgestoßen.
Die Angst seiner Kindheit beschlich ihn abermals; die allsehenden, aufmerksamen Augen seiner Mutter hatten bewirkt, daß er sich wie ein Gefangener vorkam. Jetzt, in Elises Gegenwart, verließ ihn alle Ursprünglichkeit, wie es auch geschah, wenn er mit seiner Mutter sprach. Er wurde ungeduldig. Es gab wirklich keinen Grund, warum Elise bei allem, was sie sagte und tat, eine bewußte Absicht verfolgen sollte. Sie kannten einander zu lange, um Winkelzüge zu machen. Er wollte sie nicht beschuldigen, weil er damit nur einen weitschweifigen Wortwechsel heraufbeschworen hätte.
Trotz seiner Gereiztheit schien es für ihn nichts weiter zu sagen zu geben, und doch erfüllte ihn der Gedanke, daß alles zwischen ihnen vorbei sein sollte, mit dummer Traurigkeit. In dem geschlossenen Kreise ihrer Gesellschaftsschicht waren sie zusammen
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