Eine magische Begegnung
dass sie damit nicht zu dick aufgetragen hatte – auch wenn es die Wahrheit war.
Dann kam ihr plötzlich ein Gedanke. Was war, wenn Erika und Roscoe Tanner erzählten, dass sie zu Besuch gewesen war? Er würde annehmen, dass sie gegen seinen Willen mit ihnen über den Mord geredet hätte. Zu spät. Sie würde sich nur verdächtig machen, wenn sie die beiden jetzt bat, ihm nichts zu erzählen.
“Darf ich Ihnen meine Jungs vorstellen? Sie haben ein Faible für hübsche junge Damen.”
Alle alten Männer hatten das. “Danke für das Kompliment.”
Roscoe nahm Lilis Arm und führte sie zu seinen Kumpeln, als präsentiere er sie der Königin – oder vielmehr den Königen – von England.
Vor dem großen Steinkamin lag ein altmodischer Flickenteppich, daneben stand ein Lehnsessel, von dem aus man bequem fernsehen konnte. Der schwere Couchtisch aus Holz war offensichtlich an die Wand geschoben worden, damit der Tisch fürs Kartenspielen und die vier Klappstühle mitten im Wohnzimmer Platz hatten. Daneben stand ein kleinerer Tisch mit Essen und Getränken. Erika war an Roscoe und Lili vorbei zur Couch am Fenster geflitzt und versuchte nun, über die Rückenlehne gebeugt, Fluffy hervorzulocken.
Roscoe stellte sie dem Altherrentrio vor, das sich gerade von großzügig mit Essen beladenen Tabletts bediente. “Meine Herren, ich habe eine kleine Extraüberraschung für euch. Das ist unsere neue Nachbarin, Lili Goodweather.”
“Linwood Daniels, stets zu Ihren Diensten.”
Linwood trug braune Polyesterhosen und eine kurze braune Jacke, wie Lili sie an Präsident Eisenhower in einer der unzähligen Kriegsdokumentationen auf dem History Channel gesehen hatte. Über der linken Brust wurde der Stoff durch eine beeindruckende Anzahl von Bändern und Orden schwer nach unten gezogen. Die Knopflöcher waren sowohl über Linwoods hochdekorierter Brust als auch seinem nicht weniger beeindruckenden Bauch bis aufs Äußerste gedehnt.
Er schüttelte ihr ausgiebig die Hand. “Sie sind eine wahre Augenweide.” Mit seinem schlohweißen Haar und dem dichten Bart sah er aus wie der Weihnachtsmann. Da die Linsen seiner Augen vom grauen Star leicht getrübt waren, war sich Lili nicht ganz sicher, wie er feststellen konnte, dass sie eine Augenweide war. “Wie charmant, vielen Dank.”
“Nun reicht es aber, Linwood”, sagte Roscoe und zog sie weiter zum nächsten alten Herrn. “Chester Pawson.”
Er hatte weißes Haar wie Linwood Daniels und war vermutlich ebenfalls Mitte siebzig, allerdings mit mindestens zwanzig Kilo weniger auf den Rippen – Linwoods Orden nicht mitgerechnet.
Chester musterte sie bewundernd mit seinen großen grünen Augen, nahm dann ihre Hand, die Linwood eben widerwillig losgelassen hatte, und zog sie – ganz Gentleman – für einen angedeuteten Kuss an seine Lippen. “Sie haben große Ähnlichkeit mit Deanna Durbin. Ich habe seinerzeit mit ihr gedreht, als sie auf dem Gipfel ihrer Karriere war. Wir wussten schon damals, dass der Film ein Klassiker wird.” Er neigte seinen Kopf in Roscoes Richtung. “Wie war noch mal ihr Name?”
“Lili Goodweather.” Roscoe räusperte sich. “Jede Frau, die er kennenlernt, sieht wie Deanna Durbin aus”, flüsterte er Lili ins Ohr.
“Was für ein zauberhaftes Kompliment, Mr. Pawson. Deanna Durbin war eine wunderbare Schauspielerin.” Dass sie in Wahrheit keine Ahnung hatte, spielte angesichts Chesters leuchtenden Augen keine Rolle mehr. Er drückte hocherfreut ihre Hand und ließ sie nicht mehr los. “Sie war unvergleichlich gut”, fügte Lili hinzu.
“O ja, das war sie, das war sie. Ich war damals erst siebzehn, aber sie bleibt für mich unvergessen. Wenn sie mich damals nicht so ermutigt hätte, hätte ich als Schauspieler den Durchbruch nicht so schnell geschafft.”
Lili vermutete, dass ihm der Durchbruch nie auch nur annähernd gelungen war. Also entschloss sie sich, einfach weiterzulächeln. Er hatte für sein Alter eine beachtliche Kraft in seinen Händen, das musste man ihm lassen …
“Sagen Sie, sind Sie nicht die junge Dame, die mit Tieren redet? Wir haben Sie im 'Coffee Stain' gesehen”, sagte er.
Lili wurde knallrot. Sie erinnerte sich an die beiden alten Herren, die sie heute Morgen bei Manny im Café gesehen hatte. Die 'Lustmolche' waren Linwood und Chester gewesen. “Äh, ja … das bin ich.”
“Lili ist hier, weil sie mit Fluffy reden will.” Erika strahlte. “Donnerstagnacht hat ihn irgendetwas fürchterlich erschreckt, und
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