Eine magische Begegnung
Hast du ihn die Nacht über im Haus behalten?”
“Ja, Dad hat es mir erlaubt. Als ich Fluffy heute Morgen hinausgelassen habe, schien er ganz okay zu sein. Und es ging ihm auch noch gut, als ich nach der Schule heimgekommen bin. Aber als Grandpa begonnen hat, alles für seinen Spieleabend herzurichten, ist er wieder total panisch geworden.” Erika biss sich nervös auf die Unterlippe.
Roscoe kam mit einem großen Tablett voller duftender Köstlichkeiten ins Wohnzimmer. “Iss keine Tacos, Linwood. Dann hast du nichts zu befürchten.”
“Aber sie riechen so verführerisch”, jammerte Linwood.
“Egal, du musst jetzt einfach stark bleiben.” Die vier Herren begannen endlich mit ihrem Kartenspiel.
“Kannst du noch einmal mit Fluffy reden?”
Lili wollte weder lügen noch das Versprechen brechen, das sie Tanner gegeben hatte. “Lassen wir Einstein und Fluffy noch ein bisschen Zeit für ihr Gespräch unter Katzen. Vielleicht erfahren wir ja dadurch mehr.” Als Erika sie skeptisch ansah, fügte Lili hinzu: “Einstein kann das ganz gut.” Dann zwinkerte sie der Kleinen zu. “Wir hätten sie Freud nennen sollen.”
Erika lächelte nur zaghaft. Die Kleine, fand Lili, musste ein wenig von ihren Sorgen abgelenkt werden, während Einstein ihre magischen Katzenkräfte einsetzte. Sie schnappte sich kurzerhand das Buch, das – möglicherweise schon vor Jahren – hinter die Couch gerutscht war. Als sie ihre eigene kleine Wohnung ausgeräumt hatte, bevor sie in Wanettas Haus gezogen war, hatte sie an den unmöglichsten Orten jede Menge längst verloren geglaubte Schätze gefunden.
Lili las den Titel. “Mollys neue Mom”.
Erika riss ihr das Buch aus der Hand und setzte sich rasch darauf. “Das gehört nicht mir. Eine Freundin, die mich besucht hat, muss es wohl auf die Rückenlehne gelegt haben. Und von dort ist es dann hinuntergerutscht.”
Lili fiel auf, dass Erika den Namen ihrer Freundin nicht gesagt hatte. Normalerweise nannte man jemanden, den man gut kannte, beim Namen, wenn man über ihn redete. Auch dann, wenn derjenige, dem man die Geschichte erzählte, die Person nicht kannte. Des Weiteren waren Erikas Pupillen für einen Moment etwas größer geworden. Außerdem sah die Kleine Lili nicht in die Augen, sondern starrte auf ihre Schulter. Das alles war ein wenig verdächtig.
Erika wollte nicht, dass Lili erfuhr, dass es
ihr
Buch war.
“Mollys neue Mom”. Sehr interessant. Erika sehnte sich also nach einer weiblichen Bezugsperson. Das war durchaus nachvollziehbar – vor allem da sie ja mit ihren zwölf Jahren gerade an der Schwelle zum Frausein stand. Dieser Wunsch schien allerdings ihr großes Geheimnis zu sein. Vielleicht hatte das Buch nicht ganz zufällig hinter der Couch gelegen, sondern war dort versteckt worden.
Hinter ihnen gab es gerade einen Eklat beim Kartenspiel. Linwood Daniels warf seine Karten auf den Tisch. “Verflucht, Chester, du spielst so, wie alte Leute bumsen – nicht sehr gut. Wir verlieren.”
Lili sah, wie Roscoe Linwood scharf ansah.
“Entschuldigung.” Dann sagte Linwood sehr laut: “Tut mir leid, Erika. So etwas in deiner Gegenwart zu sagen war nicht gerade die feine englische Art.”
“Schon okay, Mr. Daniels. Ich habe es gar nicht gehört.”
Die kleine Schwindlerin. Lili war überzeugt, dass Erika jedes Wort verstanden hatte. Doch es war süß von ihr, auf eine Arte und Weise zu reagieren, dass es dem alten Herrn nicht noch unangenehmer sein musste.
Erika knuffte Lili in den Arm. “Reden die Katzen schon miteinander?”
Lili betrachtete Fluffys aufgestelltes Fell. “Nein, ich zumindest kann nichts verstehen.” Sie verstand sehr wohl: verletzter männlicher Stolz.
Einstein gab Geräusche von sich, als würge sie einen Haarball hervor.
“Dann solltest jetzt vielleicht doch
du
mit Fluffy reden.”
Hatte sie eine andere Wahl, wenn zwei blaue Augen so flehentlich und voller Hoffnung auf sie gerichtet waren? Während die Kleine weiter Fluffy beobachtete, schloss Lili die Augen.
Stopp, du dummes menschliches Wesen!
Eine blinkende rote Ampel mit einer Narrenkappe darauf. Einstein guckte Lili böse an. Die Katze wusste, was ein Versprechen bedeutete – es dufte nicht gebrochen werden. Selbst dann nicht, wenn es einem praktisch abgerungen worden war.
Täusch irgendetwas vor.
Als Lili das Bild dazu sah, hätte sie beinahe laut losgeprustet: eine Frau, die im Bett ihrem Liebhaber … nun ja … etwas Bestimmtes vortäuschte. Du lieber Himmel, woher
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