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Eine Messe für die Stadt Arras

Eine Messe für die Stadt Arras

Titel: Eine Messe für die Stadt Arras Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrzej Szczypiorski
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sonnenhellen Tage, während der Scheiterhaufen lichterloh brannte, suchten mich Zweifel heim. Ich war schon so nahe daran, mich mit allem ringsum abzufinden, da durchfuhr mich plötzlich ein grausiger Gedanke wie ein Blitz. Ich erblickte das Antlitz des gekreuzigten Christus – blaß und schmerzverzerrt. Und gleich darauf sah ich vor mir das Gesicht des Pontius Pilatus, der sich die Hände wäscht. Und auch das Gesicht des Petrus, als er den Herrn verleugnet…
    Schon einmal in meinem Leben hatte ich ähnliche Gesichte gehabt. Ich jagte mit Chastell in den Wäldern unweit von Gent. Es war in meiner Jugend, als die Engländer noch fast die gesamte Küste beherrschten. Chastell stürzte vom Pferd und verletzte sich so, daß niemand ihm auch nur einen Tag Leben prophezeit hätte. Wir schleppten uns zu einer Bauernhütte am Waldesrand. Man bettete Chastell auf Erbsenstroh. Er verlangte nach etwas zu trinken, der Knecht rannte zum Brunnen, ich aber sagte zu dem alten Busenfreund: »Chastell, Lieber! Du brauchst einen Beichtvater. Ich lasse durch den Bauern einen Jakobinerpater holen.«
    »Mach das nicht«, sagte Chastell und lächelte mühsam. »Ich will nicht beichten…«
    Er muß wohl aus meinem Blick gelesen haben, daß ich ihn für verrückt hielt, denn er sprach weiter:
    »Ich habe nie angenommen, daß ich einmal in deiner Gegenwart, fern von all meinen anderen im Alter gereiften Freunden sterben werde. Aber sein Los kann man sich nicht wählen. Ich will nun mal keinen Schwarzrock. Du kennst mich, mein lieber Junge, und du weißt, daß ich stets über die christlichen Praktiken gespottet und die göttlichen Gebote für nichts erachtet habe. Nicht, daß ich schlecht wäre. Nein, das nicht! Aber ich glaube nun mal nicht an Gott! Ich bin niemals zur Kirche gegangen, habe nie die Stirn vor Altären gebeugt, niemals meine Sünden bekannt. Ich glaube an das alles nicht…«
    Ich war starr vor Entsetzen. Sicher, am Genter Hof wurde allgemein von Chastells Gottlosigkeit gesprochen, und so mancher große Herr ahmte ihn sogar nach. Herzog Philipp selber hat einmal gesagt, daß Chastell überaus ehrbar und edel sei und Gott daher viel verliere, wenn so ein Mensch nicht an ihn glauben will. Nun, das war am diesseitigen Ufer gewesen, jetzt aber segelte er geschwinde auf jenes andere Ufer zu, wo kein Platz mehr war für Possen und dumme Scherze. Und so glaubte ich, nicht länger mehr zögern zu dürfen und den Beichtiger rufen zu müssen. Aber er ließ meine Hand nicht los.
    »Paß auf, was ich dir sage, mein Junge!« flüsterte er kaum hörbar. »Nicht Skepsis war in meinem Herzen, nur die Gewißheit, daß ich einst wieder zu Asche werde, in grenzenlose Finsternis falle, wo man vergebens nach Seiendem sucht. Und sogar jetzt, da mir der wunderliche Gedanke im Kopf herumgeht, daß ich dort vielleicht doch etwas vorfinden werde, habe ich das Verlangen, mir selber treu zu bleiben. Wenn es Gott nicht gibt, was soll mir dann der Jakobinerpater? Wenn es ihn aber gibt, was wird er dann von mir denken? Daß ich im letzten Augenblick, aus Angst vor ihm, in die Knie sinke? Wenn er ist – ist er groß und weise. Und wenn er groß und weise ist – verachtet er Hohlköpfe und Kleinmütige. Und eben darum werde ich ihm nicht entgegengehen!«
    Der Knecht war mit Wasser zurückgekehrt. Ich schickte den Burschen nicht zum Kloster. Chastell brachte die ganze Nacht in der stickigen Stube zu. Er stöhnte nicht einmal. Ich saß dicht bei der Tür und lauschte auf seine Atemzüge. Die Nacht war sehr kalt, mir schlotterten die Gebeine, eine grauenvolle Angst preßte mir das Herz zusammen. Und da sah ich zum ersten Mal dieses überaus merkwürdige Dreigestirn: unseren Herrn Jesus Christus, Pilatus und Petrus… Das zweite Mal erschienen sie mir vergangenen Herbst, als Farias de Saxe starb. Was das zu bedeuten hat, bei Gott, ich weiß es nicht. Aber ich erinnere mich noch, daß sich eine furchtbare Unruhe in mir breitmachte, ja schlimmer noch – mich jeden Gedankens beraubte: so als wenn ich ein Gefäß wäre, aus dem eine kostbare Flüssigkeit heraussickert.
    Bisweilen drängte sich mir die Frage auf, woher im Menschen Mut und Hellsichtigkeit kommen. Man könnte die einfachste Lösung annehmen, nämlich: daß Gott die einen mit Tat- und Gedankenkühnheit bedenkt und die anderen nicht. Aber wen? Man sagt, die Edelgeborenen, doch daran glaube ich nicht, weil ich in meinem Leben so viele von Vornehmheit umkleidete Hasenherzen gesehen habe, daß ich

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