Eine Messe für die Stadt Arras
werden. Dann soll sie schon lieber mein Henker sein.«
Und so sprach er und sprach. Das war durchaus nicht klug. Als ich die Zelle verließ, dachte ich, daß der Graf sich selber betrüge. Wie hoch schätzte er die Würde? So hoch, daß ich die Sünde der Überhebung darin fand…
Es war bereits Nacht, als ich meiner Behausung zustrebte. Die Stadt lag in tiefem Schlummer, die Feuerbrände waren verlöscht, ringsum herrschte Stille. In den Baumkronen rauschte sanft der Wind; über mir, vielleicht zum erstenmal in diesem Herbst, ein klarer Himmel. Ich schritt rüstig aus.
Das sind meine Beine, dachte ich, meine Füße, Knie, Schienbeine, Lenden. Sie bewegen sich rhythmisch; denn ich will es so, obwohl ich es nicht einmal ausdrücklich befehle. Sie selber wissen, was sie zu tun haben. Wie wundervoll kompliziert ist doch das Leben, vor allem aber der lebendige Körper eines Menschen! Ein Verräter ist, wer den eigenen Leib den Flammen ausliefert. Da ist mein Bauch, dachte ich, da meine Arme, der Kopf, Augen, Lippen, Haare. Jedes einzelne meiner Haare spürt den Windhauch! Wenn es regnet, sind meine Haare naß, und wollüstig geben sie sich streichelnden Händen hin. Und die Finger empfinden Freude bei der Berührung dieser rauhen Feuchte. Jedes meiner Glieder lebt für sich, und doch bilden sie alle zusammen eine Person. Das ist das wirkliche Schöpfungswunder! Wenn ich laufe, spüre ich, wie anders jeder Körperteil ist. Zuerst ein leichtes Brennen der Fußsohlen, aber ich selber bin munter und fröhlich. Dann, wenn ich weiterlaufe, zieht ein leichter Schauer über die Waden hinauf zu den Knien, die das Vibrieren in sich auffangen. Meine Beine werden schwer und träge wie bei einer schwangeren Frau. Unterdessen sind Bauch, Arme und Schultern noch immer willens, am Lauf teilzunehmen. Aber noch eine Minute, und der Atem wird flach, die Kehle trocknet aus, und der Kopf platzt schier vor Schmerz. Und dann versagen die Beine den Dienst. Vergeblich befehle ich ihnen, sich rascher zu bewegen. Sie haben genug von mir; auf einmal bin ich ihnen fremd. So separat sind sie, als hätte man sie mit einer Axt abgehauen. Aber wieder genügt eine kleine Ruhepause, ein Schluck frischen Wassers, daß sie von neuem mit dem übrigen Leib zusammenwachsen und weiter den Weg zurücklegen – sicher, gehorsam und zuverlässig… Meine guten Beine, dachte ich, meine geliebten Arme, Handflächen, Eingeweide. Wie könnte ich es wagen, euch dem Verderben, dem Untergang preiszugeben! Ich bin euer Herr und euer Diener, Freund und Liebhaber, Wohltäter und Tyrann. Haltet zu mir, und gemeinsam werden wir alle Schicksalsschläge durchstehen! Nichts ist wichtiger als dieses Durchstehen.
Während ich mich meinem Hause näherte, dachte ich, daß morgen die Sonne aufgehen und sich der Himmel wundervoll rosig färben werde. Später würde die rosige Morgenröte verschwinden, damit sich Arras in goldenem Sonnenlicht baden könnte. Vielleicht würde Wind aufkommen. Zänkisch und feindselig würde er die Blätter auseinanderwirbeln, die Flammen des Scheiterhaufens von Farias de Saxe peitschen, einen Hut entführen oder einen Strohwisch. Mittags würde ich Milch trinken wie alle Tage. Mein Leibdiener bringt mir einen Becher warme Milch direkt vom Kuheuter, und ich, bequem dasitzend, werde trinken. Später gehe ich in den Rat, und abends würde ich Hammelkeule, Bier, Käse, Früchte und wieder warme Milch vom abendlichen Melken auftragen lassen. Wenn der Tag zu Ende gegangen ist, werde ich meine Beine, Arme, Schultern, meinen Bauch und Kopf ins Bettzeug legen und irgendeine Frau aus meinem Hause rufen lassen, damit sie mich erleichtere.
Was kann es Achtbareres geben, als am Leben zu bleiben? Hat uns Gott denn geschaffen, damit wir uns im Namen mannigfaltiger Hirngespinste zugrunde richten? In unseren Tagen wird soviel über die Freiheit diskutiert. Zu Zeiten unserer Vorfahren sprach man allerorten von der Ritterehre. Mein Großvater väterlicherseits hatte einst in seiner Jugend das Bildnis einer gewissen Dame gesehen und ihr seinen Dienst zugeschworen. Dreimal zehn Jahre wanderte er fast durch die ganze Welt, führte das Leben eines Hirten, schlief unter bloßem Himmel, nährte sich von Erbsen und Ackerrettich. Wo auch immer er war, ständig schwatzte er ungereimte Historien über seine Herrin und schlug sich auf Turnieren herum. Er trug blaue Flecke und gebrochene Knochen davon, aber er blieb seinem Schwur treu. Als er endlich in Erfahrung brachte, wo er
Weitere Kostenlose Bücher