Eine Nacht ist nicht genug
beruhigte Micaela sie. „Normalerweise unterstützt mich mein Mann. Ricardo übernimmt auch alle Aufgaben, bei denen man schwer heben muss. Übrigens haben Sie ihn schon kennengelernt: Er hat Sie vom Flughafen abgeholt.“
Sie arbeiteten also beide für Luca. Und Micaela wusste von der Sache mit dem Flughafen. Emily fragte sich, wie die junge Frau das wohl gedeutet hatte. Vielleicht war es für Luca ja ganz normal, im Ausland fremde Frauen aufzugreifen?
„Luca ist der Meinung, dass ich gar nicht mehr arbeiten sollte, aber ich bin gern beschäftigt.“ Micaela kam hinter dem weißen Wäscheberg hervor und sagte: „Was darf ich Ihnen zum Mittagessen kochen?“
„Oh. Ähm, nichts.“ Ihre Frage war Emily unangenehm. Zum einen war sie es nicht gewohnt, dass jemand für sie kochte. Und war es wirklich schon Zeit fürs Mittagessen?
„Ich mache mir nachher einfach ein Sandwich. Und ich verspreche, dass ich danach alles wieder aufräume.“
Wieder lächelte Micaela. „Sagen Sie mir einfach Bescheid, wenn Sie irgendetwas brauchen.“
„Vielen Dank“, entgegnete Emily verlegen und ging hinaus. Plötzlich fand sie sich in einem eleganten Salon wieder. In einer Ecke stand ein glänzender schwarzer Flügel, vom dem Emily sich sofort magisch angezogen fühlte, denn sie hatte seit Wochen nicht mehr gespielt.
Vorsichtig und auch ein wenig ehrfürchtig setzte sie sich an den Flügel und spielte einzelne Töne, dann Akkorde. Das Instrument war perfekt gestimmt, doch sie spürte instinktiv, dass lange niemand mehr darauf gespielt hatte. Emily drückte stärker und dann sanfter auf die Tasten, um den richtigen Anschlag zu finden. Vorsichtig berührte sie mit dem Fuß das Pedal.
Dann vergaß Emily alles um sie her: Sie spielte, wie sie seit Jahren nicht mehr gespielt hatte. Keine Begleitung für Kates Gesang – so schön das auch immer war –, sondern nur für sich selbst.
Als sie plötzlich Schritte hinter sich hörte, fuhr Emily herum und wäre fast vom Klavierhocker gefallen, als sie direkt neben sich einen kleinen Jungen entdeckte.
„Hallo“, begrüßte sie ihn. Sicher war der Kleine der Sohn der Haushälterin.
Der Junge erwiderte nichts, doch sein Blick glitt zum Klavier.
„Möchtest du noch etwas Musik hören?“
Wieder antwortete er nicht, doch aus seinen Augen sprach eindeutig ein Ja.
„Dann also los“, sagte Emily lächelnd und wandte sich wieder den Tasten zu, damit der Kleine nicht aus Schüchternheit weglaufen würde. Sie spielte ein Stück, das er vielleicht erkennen würde.
Nach ein paar Minuten spürte sie, wie er unruhig wurde. Hatte er vielleicht schon genug und wäre lieber wieder gegangen? Emily sah den Jungen an, der jedoch fasziniert beobachtete, wie ihre Finger über die Tasten glitten.
„Möchtest du auch mal spielen?“, fragte sie ihn freundlich.
Ein Lächeln erschien auf seinem kleinen Gesicht.
Zuerst hatte Emily Bedenken bei der Vorstellung, ein kleines Kind an ein so edles Instrument zu lassen. Aber der Flügel war dafür da, dass jemand auf ihm spielte. Und nach den großen runden Augen des Jungen zu schließen, träumte er schon eine ganze Weile davon.
Sein Lächeln wurde breiter, als sie seine Finger umschloss und mit ihm ein kleines Liedlein spielte. Er gluckste vor Freude, und Emily wusste genau, was in ihm vorging.
„Marco!“, sagte plötzlich jemand hinter ihnen.
Der kleine Junge zuckte zusammen und Emily ebenfalls.
„Es ist alles in Ordnung“, beeilte sie sich, Micaela zu versichern, denn sie wollte nicht, dass der Junge ausgeschimpft wurde. Doch als sie den nachsichtigen Blick seiner Mutter bemerkte, wusste sie, dass er in ihren Augen niemals etwas falsch machte.
Micaela sprach sanft auf Italienisch mit Marco, der daraufhin aus dem Zimmer lief. „Danke“, sagte sie dann.
„Ich finde es schön, wenn jemand mir gern zuhört“, erwiderte Emily. „Wie alt ist Marco?“
„Fast fünf. In einigen Wochen kommt er in die Schule.“
„Er ist wirklich süß“, sagte Emily. „Und wann bekommen Sie Ihr zweites Kind?“
„Noch im Dezember.“ Zum ersten Mal war Micaelas Lächeln strahlend und überglücklich. „Es wird unser kleines Weihnachtswunder.“
Als Luca endlich – sehr spät – nach Hause kam, war Emilys Sehnsucht nahezu übermäßig geworden, doch in seinen Augen lag ebenfalls jenes unbändige Begehren. Sie schmiegte sich an ihn und strich ihm durchs Haar. Dann küssten sie sich und sanken auf den Boden, ohne die Lippen voneinander zu lösen.
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