Eine naechtliche Begegnung
gelegentlich. Aber ich bin von keiner abhängig.« Er hielt inne. »Anarchismus, Teufelsanbetung, beides falsch … gibt es noch etwas? Lassen Sie mich einen Moment nachdenken.«
Entgeistert sah sie ihn an. »Mehr kann es wohl kaum geben.«
»Höchstens ein paar Bagatellen«, gab er mit einem fröhlichen Lächeln zurück.
Die Diskrepanz zwischen seinem Tonfall und den Eingeständnissen ging ihr auf die Nerven. Seine Worte schienen ihn nicht im Geringsten zu erschüttern. »Es macht Ihnen nichts aus?«
»Was?«
»Dass die Leute Lügen über Sie erzählen?«
Leicht neigte er den Kopf zur Seite. »Warum sollte es? Abgesehen von den Unannehmlichkeiten bei der Suche nach einer wohlhabenden Braut.«
»Wegen der Wahrheit?« An seiner Stelle müsste sie sich wirklich zusammenreißen, um diese verlogenen Gesichter nicht zu zerkratzen.
Sein Grübchen kam zum Vorschein. »Die Wahrheit ist so viel langweiliger«, sagte er. »Und die Leute wollen unterhalten werden. Dafür sorge ich.« Einen Augenblick lang schwieg er und sah aus, als würde dieser Gedanke ihn amüsieren. »Vermutlich steckt in jedem ein Geschichtenerzähler. Und ich inspiriere diese Geschichten. In dieser Hinsicht bin ich so etwas wie …« Plötzlich lachte er. »Eine Muse für die gelangweilte Oberschicht.«
»Eine Muse.«
»Gestalten aus der griechischen Sage. Inspirierten …«
»Dichter und Künstler und was auch immer«, beendete sie seinen Satz. »Ich dachte, es waren Frauen.«
»Waren es auch.« Er beugte sich vor und musterte sie eingehend. »Sie lesen also doch.«
Sie verdrehte die Augen. »Muss ich Ihnen fünfmal sagen, dass ich meine Buchstaben gelernt habe, bevor Sie mir glauben?«
Er gab ein amüsiertes Schnauben von sich. »Ich hatte nicht gedacht, dass man in der Volksschule griechische Literatur durchnimmt.«
Gott im Himmel. »Leute, die sich keine Bücher leisten können, benutzen Leihbüchereien.« Die meisten davon waren furchtbar, aber die GFS hatte eine fantastische Sammlung. Das war der einzige Grund, warum sie beigetreten war.
»Gewiss.« Er betrachtete sie. »Sie müssen mich für einen fürchterlichen Snob halten.«
»Sie sind ein Snob.« Leute seines Schlags waren allesamt Snobs. »Warum? Glauben Sie etwa, dass Sie keiner sind?«
»Nein. Ich gebe es zu.«
Sie grinste. »Anscheinend geben Sie so einiges zu, was andere Leute lieber abstreiten würden.«
Langsam breitete sich ein Lächeln auf seinem Gesicht aus. »Sie sind nicht schwer von Begriff.«
»Das hat auch nie jemand behauptet.« Wie konnte er so etwas nur denken? Es kratzte an ihrer dummen Eitelkeit. »Vielleicht lassen Sie sich von der Tatsache täuschen, dass ich immer noch hier sitze«, sagte sie. »Eine kluge Frau würde zweifellos schnellstens verschwinden. Sie haben selbst gesagt, dass Sie keine gute Gesellschaft abgeben.«
»Oh nein«, sagte er, und wieder kam sein Grübchen zum Vorschein. »Sie haben mich missverstanden, Nell. Bei mir sind Sie sogar in der allerbesten Gesellschaft: Ich verspreche Ihnen, dass Sie sich nie langweilen werden.«
Sie schnaubte. »Um Langeweile mache ich mir keine Sorgen.«
»Dann sind Sie eine sehr glückliche Frau.«
Was für ein dummes Geschwafel. Er redete daher wie ein Kind. »Sie sind der Glückliche. Sonst wüssten Sie, dass man an Langeweile Freude haben kann. Die Beste aller Freuden: Es bedeutet, dass man sich um nichts zu sorgen braucht.«
Er beugte sich so schnell vor, dass sie nicht mehr zurückweichen konnte. Mit den Fingern strich er über ihre geschwollene Wange, sein Daumen lag neben ihrem Mundwinkel. »Wegen mir müssen Sie sich keine Sorgen machen«, murmelte er. »Ich habe in meinem Leben noch nie eine Frau verletzt.«
Als sie die Berührung seines Daumens so nah an ihren Lippen spürte, ging ein Beben durch ihren Körper. Es war wie das erste Zittern eines zu fest geschlossenen Topfdeckels, bevor er absprang. Ihr Körper mochte es. Das konnte schon mal vorkommen. Es hieß noch lange nicht, dass sie dem Beachtung schenken musste.
Nell räusperte sich. »Sie müssen mich nicht berühren, um dieses Argument zu unterstreichen.«
»Aber ich berühre Sie gern.« Er musterte sie einen Moment lang. »Merken Sie das nicht?«
Sie begriff, dass er sie küssen wollte. Sein Griff war nicht fest. Sie hätte zurückweichen können. Aber wenn man zurückwich, glaubten Männer manchmal, man hätte Angst vor ihnen. Und sobald sie das dachten, taten sie alles Mögliche, um herauszufinden, ob es stimmte.
Langsam
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