Eine naechtliche Begegnung
»Ich könnte kaum eine bessere Farbe tragen«, sagte sie herausfordernd.
»Wohl nicht«, sagte Polly. »Jedenfalls – ist es eine ziemlich knappe Entscheidung zwischen diesem und dem lila Nachmittagskleid.«
»Oh, das violette Kleid bewahre ich erst mal auf.« Das war für Hannah. »Ich werde es nicht tragen.«
Wieder schlich das Hausmädchen ins Spiegelbild. Es drehte die Hände vor der Taille, nervös wie eine Maus auf offenem Feld. »Ich sollte Ihr Haar noch einmal zurechtmachen, wenn Sie erlauben.«
Nell betrachtete ausdruckslos ihren Pony, den Polly mit einem heißen Eisen zu Ringellocken gedreht hatte. »Es ist gut, wie es ist«, sagte sie. Eine Frisur für Damen, die nie das Haus verließen. Sobald man einen Fuß nach draußen in die Feuchtigkeit setzte, würden die Locken sich auflösen.
Bei dem Gedanken musste sie grinsen. »Diese Kleider sind für Ladys, die nie etwas Nützliches tun.« Die Säume der offenen Jacke würden sich an jeder Ecke verfangen. Mit den engen Ärmeln könnte sie niemals einen Korb auf den Tisch heben. Kleider, die dafür gemacht waren, nichts zu tun. Der Gedanke gefiel ihr.
»Das vermute ich mal«, sagte Polly zögerlich. »Aber sie stehen Ihnen, Mylady.«
Mylady!
Nell wandte sich vom Spiegel ab und warf dem Mädchen einen schiefen Blick zu. »Heute Morgen Anweisungen bekommen?«
Polly errötete und senkte den Blick: Es war klar, dass sie sich diese Anrede nicht allein ausgedacht hatte.
»Wenn wir zurechtkommen sollen«, sagte Nell freundlicher, »dann nenn mich bei meinem richtigen Namen – und lüg mich nie an.«
»Ich würd Ärger kriegen, wenn ich Sie so nenne.«
Nell betrachtete Polly, mit ihrer weißen Haube auf dem Kopf. »Na gut«, gab sie widerwillig zurück. »Dann nenn mich, wie du musst.«
Polly sah auf, ihre runden Augen waren ernst. »Aber ich habe nicht gelogen. Sie sehen wirklich wunderschön aus. Und nicht nur wegen des Kleides. Aber wenn Sie es nicht mögen, können wir die anderen noch einmal anprobieren …«
»Und noch mal zwei Stunden damit zubringen?« Man stelle sich das vor, so viele Kleider zu haben, dass man zwei Stunden brauchte, um alle einmal anzuziehen! St. Maur hatte obendrein einen Haufen Seidenunterröcke bestellt, Strümpfe in fröhlichen, lebendigen Farbtönen, Hüte und Umhängetücher und zehn Sets wollener Unterwäsche. Der Kleiderhaufen auf dem Sofa war fast einen Meter hoch.
Als Nell noch einen Blick auf die umgestülpten Schachteln warf, meldete sich Unbehagen. Fast konnte sie glauben, in einem Märchenland aufgewacht zu sein. Aber dies war die Realität. Ein Happy End kam selten vor. Sie hatte jedenfalls noch nie eines miterlebt.
Eine kluge Frau würde sich nicht gestatten, es sich hier gemütlich zu machen. Sie würde niemals davon ausgehen, dass ihr Glück von Dauer wäre. Sie würde wachsam bleiben und sich weiter nach Möglichkeiten umsehen, denn was einem so leicht zugefallen war, konnte genauso schnell wieder verschwinden. Unter der Matratze hatte sie ein Lager mit Silber und Spitze angelegt – und jeden Tag kam ein Stück dazu.
An den Kleidern konnte sie ja trotzdem Freude haben.
Sie lächelte an sich herab, betrachtete den unglaublichen Anblick ihrer rauen Hände vor dem feinen Seidenunterrock und hob den Rock, damit sie größere Schritte machen konnte. »Ich sollte gehen«, sagte sie. Seine hochwohlgeborene Lordschaft wartete unten, um sie einer Dame vorzustellen, die ihr Manieren beibringen sollte. Er hatte auch einen Tanzlehrer und einen Lehrer für Aussprache erwähnt.
»Ja«, sagte Polly leise. »Ich …« Heftig stieß sie den Atem aus. »Ich muss Ihnen danken, Mylady, ich weiß nicht, welcher Teufel mich geritten hat, Ihnen gestern einen so bösen Streich zu spielen …«
»Schon in Ordnung.« Nell zwinkerte ihr zu. »Wir hatten Streit, also wolltest du mir wohl eins auswischen. Hauptsache jetzt ist alles wieder in Butter zwischen uns.«
»Oh ja, alles in Butter«, sagte das Hausmädchen voller Inbrunst. »Mehr als in Butter, Mylady. Fast … in Sahne, würde ich sagen.«
Nell überraschte sich selbst mit einem Lachen. »Du bist mir eine. Zeig mir den Weg in den Morgenraum, Kleine.«
»Noch nicht ganz.« Simon ließ die Hände über die Tasten gleiten und deutete die problematische Passage an. »Haben Sie keine Angst vor Übertreibung. Sie verstecken das Fis mitten in der Phrase.«
Als die erwartete Antwort ausblieb, blickte er auf und ertappte Andreasson dabei, wie er die gegenüberliegende Wand
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