Eine riskante Affäre (German Edition)
Retikül. Nur ein Blick in Richtung Papa und eine kleine, unscheinbare Bewegung, dass wahrscheinlich nicht einmal eine Fliege dadurch aufgescheucht worden wäre.
Sie machte sie jetzt und ließ ihre Aufmerksamkeit abschweifen …
»Hier.« Er hielt ihr die Liste hin, wobei er die Seite gut festhielt und sie dann so lange knüllte und faltete, bis nur noch ein einziger Eintrag zu erkennen war. Noch bevor sie ihn lesen konnte, zog er das Blatt weg.
Sie verharrte in reglosem Schweigen, bis er ihr das Blatt wieder entgegenhielt und ihr so die Chance gab, die Zeile zu lesen, während er vor Wut kochte. Nicht mehr lange, dann bekäme er einen Herzanfall.
Der Eintrag, den er ihr zeigte, war authentisch. Er enthielt das Datum, den Ort, den geheimen Vermerk. Alles deckte sich mit dem, was Jess wusste, und der Colonel hatte unmöglich vorhersehen können, welches Datum sie zu überprüfen gedachte. Dies war die Liste mit den geheimen Terminen. Genau das, was sie brauchte.
»Vielen Dank.« Ein Bröckchen Wahrheit in diesem Lügenbrei. Sie sah ihn nicht direkt an, da er ihr – bei all dem Glück, das sie in letzter Zeit hatte – ihre Absichten von der Stirn hätte ablesen können.
»Sie bekommen sie morgen. Mein erstes Geschenk an Sie, wenn wir Mann und Frau sind«, log er durch seine schiefen, vom Tabak verfärbten Zähne.
Was ohnehin keine Rolle spielte. Heute Nacht, wenn er schlief, würde sie die Liste aus seinem Haus entwenden. Das war auch der Grund, warum der Allmächtige die Häuser mit Fenstern versah: um Dieben den Einstieg zu erleichtern. »Dann also morgen«, erwiderte sie. Ihre Lüge war zwar knapper, aber immer noch eine Lüge, wie man es auch drehte und wendete.
»Es ist doch immer wieder erbaulich«, schwärmte Adrian, »eine talentierte Amateurin bei der Arbeit zu beobachten. Das dürfte die Liste der verschwundenen Dokumente vom Militärgeheimdienst sein. Jess wollte diese Liste haben, also hat sie Reams einfach gebeten, sie ihr zu bringen. Damit ist sie immer noch das direkteste aller mir bekannten Wesen.«
Sebastian ließ sie nicht aus den Augen. Sie war bemerkenswert. »Sie feilscht. Sieh sie dir nur an!« In nur wenigen Metern Entfernung und mit dreißig Männern und Frauen als Zuschauer versuchte Reams, Jess so unter Druck zu setzen, dass sie nachgab. Worum auch immer es bei den beiden ging, sie wich keinen Zentimeter von ihrem Standpunkt ab.
Adrian beobachtete die zwei mit ungebrochener Aufmerksamkeit und ohne auch nur einmal zu blinzeln. »Das Wort ›Aufgebot‹ ist gefallen. Das macht mich nervös.«
»Sie wird sich nicht für diese Liste verkaufen.« Doch da war er sich gar nicht so sicher. Wenn Jess etwas vorhatte, dann mit Leib und Seele, und zwar ohne Rücksicht auf ihren gesunden Menschenverstand oder ihre eigene Sicherheit. Unmöglich zu sagen, wie ihre Vorstellung von Vernunft aussah. »Wenn Reams die Whitby-Erbin in die Finger bekommt, wird Whitby das Ende des Sommers nicht mehr erleben. Das muss ihr klar sein.«
»Sie ist doch kein Dummkopf, meine Jess.«
Sie war nicht Adrians Jess, sondern seine.
Reams rückte ein Stückchen näher und knurrte ihr ins Gesicht. Er war klein, dick und massig, und neben ihm wirkte sie zerbrechlich. Was jedoch täuschte. Jess war wie Stahl. Der stürmische Wind, den Reams erzeugte, fegte an ihr vorbei und um sie herum, um sich dann zu verflüchtigen. In diesem Augenblick wäre ich nur ungern ihr Verhandlungspartner.
Reams hatte schmollend und knurrend nachgegeben. Er hielt Jess das zusammengefaltete Papier unter die Nase. Sie nickte, und der Colonel steckte es wieder in seine Uniform.
Es war deutlich zu erkennen, was Jess vorhatte. »Für eine Rückkehr nach Horse Guards ist es schon zu spät. Er wird die Liste mit nach Hause nehmen. Sie will ihm heute Nacht dorthin folgen, um sie ihm zu stibitzen.« Genau die Art von Vorgehensweise, die typisch für sie war. Wirklich schlau. Mit guten Erfolgsaussichten. Wobei sie ihren Hals riskierte, als wäre das absolut belanglos. »Wahrscheinlich wohnt er irgendwo hoch oben, mindestens im dritten Stock.«
»Ein hübsches Stadthaus in der South Audley Street, womit du ansonsten recht hast.« Adrian grinste. »Drei Stockwerke. Ziemlich steiles Dach. Ich habe es schon unter die Lupe genommen.«
»Also nehmen wir ihm die Liste jetzt ab.«
»Und kommen ihr zuvor. Ja. Ausgezeichnete Idee. Halt das mal.« Adrian reichte ihm den noch fast vollen Punschbecher. »Wir werden ihre Pläne mit unseren eigenen
Weitere Kostenlose Bücher