Eine Rose im Winter
feingeschnittenen Profil auf die vollen Formen ihres Busens herabgleiten, der von ihrem halb offen stehenden Mantel freigegeben wurde. Seine Augen verweilten hier einen angenehmen Augenblick lang, bis sie zu ihren Händen hinabwanderten, die in Handschuhen sittsam im Schoß gefaltet lagen. Er seufzte innerlich.
»Möchten Sie, daß wir in Mawbry anhalten, damit Sie Ihre Familie besuchen können?« fragte er nach einer Weile.
»Ich habe ihnen nichts zu sagen, Mylord«, murmelte sie. »Es wäre mir lieber, die Fahrt nach Saxton Hall fortzusetzen.«
Lord Saxton drückte seine Handflächen gegen den Knauf seines Stockes, während er über ihre Antwort nachsann. Selbst wenn sie seinen möglichen Wunsch, baldmöglichst Saxton Hall zu erreichen, fürchten sollte, so zeigte sie doch offensichtlich keine Neigung, diese Ankunft durch einen Besuch bei ihren Verwandten hinauszuzögern.
Die Sonne begann hinter den Horizont zu sinken und tauchte ihr Gesicht und ihren Busen in ein weiches, goldenes Licht. Erienne wußte, daß er sie beobachtete. Sie empfand die Leidenschaft seines Blickes sehr viel stärker als die Wärme der Sonne. Nach einiger Zeit, als das Licht immer weniger wurde, brachte ihr die Dunkelheit Erleichterung und Schutz vor seiner unerschütterlichen Aufmerksamkeit. Doch selbst dann ging von ihrem Mann eine eigenartige Ausstrahlung aus. Sie fragte sich, ob er nicht etwas Übermenschliches an sich hätte, ob seine Augen nicht die tiefschwarzen Schatten durchdrängen und ob sich jemals die beunruhigende Scheu verlieren würde, die sie in seiner Gegenwart empfand.
***
Als Erienne am nächsten Morgen erwachte, erfuhr sie, daß Lord Saxton das Haus schon verlassen und eine Nachricht hinterlassen hatte, daß er erst in einigen Tagen zurückkommen würde. Sie nahm seine Abwesenheit mit einer gewissen Erleichterung auf, wenngleich sie sich in ihrem Inneren nicht ganz frei fühlte. Sie machte sich an die Arbeit, um zu beweisen, daß sie eine Herrin sei, die den Aufgaben des Hauses gewachsen war, wenn schon noch nicht denen einer Ehefrau. Sie verfügte über die Dienstboten, ließ einige der Wohnräume des Hauses in Ordnung bringen und andere Teile des Hauses putzen, um die sich lange Zeit niemand gekümmert hatte.
Obwohl einige der Bauern ihre Pacht in Esswaren beglichen, gab es immer Gewürze und seltene Zutaten, die man noch kaufen mußte. Da außerdem in der Küche Vorräte fehlten, schrieb sie Paine eine Liste mit den Dingen, die er durch eine weitere Fahrt zum Markt erledigen sollte.
Erienne wollte selbst die Pächter kennenlernen und ließ Tanner anspannen. Ausgestattet mit Heilkräutern, verschiedenen Teesorten und medizinischen Salben, begann sie zusammen mit Tessie die Dörfer zu besuchen, um zu sehen, ob sie irgendwie helfen könnte. Es gab viele freundliche Menschen, die sie willkommen hießen und deren fröhliches Lachen und strahlende Gesichter sichtbarer Beweis dafür waren, daß sie Lord Saxton trotz seines beängstigenden Aussehens für seine Rückkehr dankbar waren. Sie nahm mit Erstaunen ihre glühende Anhänglichkeit an die Familie zur Kenntnis, und es entging ihr auch nicht, wie ihre Lippen schmaler wurden, wenn man Lord Talbots Namen erwähnte. Die letzten Jahre waren für sie nicht leicht gewesen, doch nachdem der rechtmäßige Lord wieder das Land verwaltete, hatten sie schnell wieder Hoffnung für die Zukunft gewonnen.
Nach ihrer Rückkehr entdeckte Erienne in ihrem Inneren ein neues Pflänzchen der Achtung vor ihrem Mann. Während ihrer kurzen Besuche hatte sie erfahren, daß er bereits versucht hatte, ihre Not zu lindern, indem er ihre Pachtbeträge senkte. Er hatte auch Gesetze abgeschafft, die ihnen von Lord Talbot auferlegt worden waren, und hatte dafür neue erlassen, die gerecht waren und unter denen es sich leicht leben ließ. Aus Schottland hatte er zwei Bullen und fast ein Dutzend Schafböcke kommen lassen, um einen Grundstock für einen widerstandsfähigeren und gesünderen Viehbestand für die Pächter zu legen. So wurde ihr bald klar, daß es viele Gründe gab, warum die Leute die Rückkehr ihres Mannes so sehr begrüßten.
Zehntes Kapitel
Lord Saxtons anhaltendes Klopfen an der Tür des Bürgermeisterhauses wurde von einem ungeduldigem Ruf beantwortet. Nach einem kurzen polternden Geräusch ging die Tür auf und gab den Blick auf einen schlimm zerzausten Farrell frei. Der junge Mann hielt seinen Blick niedergeschlagen und war ganz offensichtlich nicht in bester Verfassung.
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