Eine Rose im Winter
nippte, während sie ihn über den Rand des Glases weiter beobachtete. Mag sein, daß er sich das nur eingebildet hatte, doch fast sah es so aus, als ob sogar der ausdruckslose Helm seines Gastgebers verwundert eine Augenbraue hochgezogen hatte. Avery stieß die halbleere Schüssel zurück, nahm einen kräftigen Schluck Wein und kaute verdrießlich an einem Stück trockenen Brot. Beides schien seinem Magen gut zu tun, und die Unterhaltung zwischen Farrell und Erienne kam langsam wieder in Gang.
Als die nächste Speise aufgetragen wurde, zeigte Avery schon wieder guten Appetit. Der Duft des Essens, das ihm in die Nase stieg, ließ ihn ganz ungeduldig werden. Aggie löffelte ihm noch eine Extraportion auf seinen Teller und warf ihm ein Lächeln zu. Das Wasser lief ihm schon im Munde zusammen, als Paine ihm den Teller vorsetzte, und bevor der Mann noch seinen Arm wegnehmen konnte, hielt er schon Messer und Gabel kampfbereit. Er grub sich in die Tiefen seiner Schüssel, stopfte ein Riesenstück Fleisch in den Mund und kaute es genüßlich mit halb geschlossenen Augen. Er schluckte schwer und murmelte, als er sich wieder bediente.
»Das ist gut. Das ist sehr gut.« Er fuhr mit seinem Messer in der Luft herum. »Das Beste, was ich seit langer Zeit gehabt habe.«
Er schob die beladene Gabel in sein aufgesperrtes Maul und suchte nach einem anderen Stück, als plötzlich seine Fäuste mit Messer und Gabel auf den Tisch fielen. Er stand halb auf und beugte sich nach vorn. Ein langsames, schmerzliches Stöhnen drang aus seinen zusammengepressten Zähnen, und sein ganzer Körper wurde so steif wie eine Bronzestatue, während sein Gesicht fast die gleiche Farbe annahm. Er ließ Messer und Gabel fallen, und seine Hände krampften sich um die Tischkante, bis die Knöchel weiß wurden. Seine Zähne schlugen aufeinander, und er zog schnell und pfeifend die Luft ein. Er hielt diese Pose für einen Augenblick, bis er in schnellfolgenden Silben und mit überlauter Stimme losbrüllte: »So-'ne-wunderbare-Nacht-draußen, urps! Denke-ich-geh'-'n-bißchen-spazieren!«
Er nickte kurz, um sich zu entschuldigen und flog dann förmlich mit fliegenden Rockschößen aus dem Raum. Mit lautem Geräusch öffnete sich das Tor zum Turm, um dann krachend wieder ins Schloß zu fallen.
Farrell sah Erienne an und zuckte die Schultern. Sie warf einen Blick zu Paine, der vollkommen stoisch dastand und, wie gewöhnlich, in seinem Gesicht keine Regung erkennen ließ. Aggie wirkte nicht viel anders, obwohl es so aussah, als ob sich langsam ein dunklerer Rotton über ihr Gesicht legte und als ob sie plötzlich etwas an den Schultern juckte und der eine Mundwinkel ein leichtes Zucken zeigte. Als Erienne sie weiter ansah, überfiel die Frau plötzlich ein eigenartiger Hustenanfall, und sie eilte aus dem Raum. Als sich die Tür hinter ihr geschlossen hatte, konnten sie von draußen ein dumpfes Geräusch hören, das wie unterdrücktes Lachen klang.
Am folgenden Abend hatte sich Averys Magen endlich wieder so weit beruhigt, daß er sein Zimmer verlassen konnte, um Erienne aufzusuchen. Es war schon spät, und alle hatten sich zur Nacht zurückgezogen. Er hatte sich ausgerechnet, daß dies die letzte Gelegenheit sei, um sie allein zu sprechen, da er und Farrell am nächsten Morgen wieder nach Mawbry zurückkehren wollten. Die vergangene Nacht hatte er damit zugebracht, in verzweifelter Anstrengung seine revoltierenden Gedärme zu beruhigen. Er hatte keine Ahnung, was für eine Krankheit ihn befallen hatte; er hätte im Essen etwas Verdorbenes vermutet, doch allen anderen war es offensichtlich gut bekommen. So war er sehr besorgt, daß es etwas Ernstes sein könnte, und es schien ihm noch notwendiger als zuvor, von seiner Tochter eine große Summe zu bekommen.
In dem oberen Gang brannten nur noch ein paar Kerzen an der Wand. Auf seine offenbar harmlose Frage hatte ihm Farrell erklärt, wo die Schlafzimmer des Lords und der Lady lagen. Avery folgte genau dem beschriebenen Weg und schlich verstohlen zu Lord Saxtons Tür, um zu horchen. Unter der Tür fiel kein Licht durch, und im Raum war kein Ton zu hören, so daß er annehmen konnte, daß der Mann in friedlicher Ruhe schlummerte.
Etwas sicherer, aber immer noch ängstlich besorgt, kein Geräusch zu machen, solange er nicht wußte, ob seine Tochter allein war, schlich Avery weiter den Gang zu Eriennes Zimmer hinunter. Dieses Mal fand er einen dünnen Lichtstrahl, der unter der Tür hervorschien. Sehr zu seiner
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