Eine Rose im Winter
jetzt keine Zeit, Farrell«, erklärte Lord Saxton kurz, ohne daß sein Tempo merklich langsamer wurde. »Erienne ist von einem Besuch bei Ihrem Vater nicht mit der Kutsche zurückgekommen, und ich bin um ihre Sicherheit besorgt. Ich muß gehen.«
Bundy und Tanner schoben sich an ihm vorbei und beeilten sich, auf dem Kutschbock des Landauers Platz zu nehmen. Lord Saxton kam hinterher, doch der junge Mann konnte ihn am Arm aufhalten.
»Sie ist nicht mehr dort, mein Herr!«
»Was?« Der Herr von Saxton Hall blieb stehen, und die leblose Maske wandte sich gespenstisch um und starrte den jungen Mann an. »Was sagen Sie?« Seine Stimme hatte die gewohnte Heiserkeit verloren, sie klang nur noch hohl aus den Löchern.
Farrell nahm seine Hand vom Arm des Lords und rieb sich die Schläfe. »So gern ich Ihnen auch etwas anderes berichten würde, Herr, ich fürchte, daß der Bürgermeister Erienne dem Sheriff übergeben hat.«
Lord Saxton zog rasselnd den Atem ein: »Ich hätte ihn umbringen sollen, diesen …!« Er drehte sich mit erstaunlicher Behendigkeit auf seinem Absatz und schwang seinen schweren Stock wie einen Säbel um sich. »Und Talbot? Wo ist er?«
»Ich glaube, der Sheriff sagte, er sei nicht da.«
»Wohin wurde sie gebracht?«
»Ich weiß nicht«, antwortete Farrell verdrossen.
»In welche Richtung sind sie weggefahren?«
»Tut mir leid.« Der junge Mann gestand es mit schamrotem Gesicht. »Ich war in der Küche und habe nichts gesehen.«
Für eine kurze Weile warf Lord Saxton seinen vom Leder verborgenen Kopf wie ein wütender Bulle, der einen unfassbaren Gegner sucht, von einer Seite auf die andere. Er reckte sich auf und rief donnernd aus dem Eingang: »Bundy!«
Der Mann sprang vom Bock und kam angerannt, »jawohl, Mylord?«
»Sende Männer mit schnellen Pferden nach Carlyle, Wirkinton, auf die Straße nach York, in alle Richtungen! Sie sollen sich umhören, ob jemand die …« Er wandte sich mit der unausgesprochenen Frage an Farrell, von dem das wichtige Wort für die Suche kommen sollte.
»Die Mietkutsche der Stadt. Sie haben sie ohne den Kutscher mitgenommen.«
»Tanner!«
»Jawohl, Mylord!« Er war schon zum Tor gekommen.
»Ich werde jetzt noch nicht fahren. Aber halte den Wagen bereit, daß du jederzeit losfahren kannst.«
»Jawohl, Mylord!«
»Bundy«, Lord Saxton wandte sich wieder seinem Diener zu, »ich habe noch Briefe zu schreiben. Du kümmerst dich darum, daß alle Straßen nach Saxton Hall von Männern bewacht werden und hältst dich selbst zum Abreiten bereit.« Er drehte sich um und ging mit Farrell an seiner Seite in den Saal zurück.
»Was kann ich tun, um zu helfen, Mylord? Sie ist meine Schwester. Ich muß ihr helfen.«
»Das können Sie, Farrell«, versicherte ihm der ältere Mann. »Ich brauche jemanden, der nach Wirkinton reitet und Kapitän Daniels von der Christina aufsucht und ihm einen Brief übergibt.«
»Aber das ist Setons Schiff. Wie …« Farrell schien verwirrt zu sein. »Warum wollen Sie sich von dem Yankee helfen lassen, wenn Erienne … ich meine …« Er fand nicht die Worte, um den Satz zu beenden. Wenn Lord Saxton nichts von der Untreue seiner Frau ahnte, dann würde er es, das schwor sich Farrell, auch nicht von ihm erfahren. »Natürlich gehe ich. Hauptsache, es kann ihr helfen.«
Saxton ging in das Zimmer hinter dem Saal, zog dort unter einem Schreibpult einen Stuhl hervor, nahm sich Federkiel und Pergament und saß dann eine Weile nachdenklich da. Plötzlich setzte er sich grollend in seinem Stuhl zurück.
»Dieser verdammte Narr Avery! Er muß schon großes Glück haben, wenn er nicht eines Tages erlebt, daß ich ihm das Fell in Stücken vom Leibe ziehe!« Er erinnerte sich an die Anwesenheit des anderen und sah ihn an. »Ich muß mich entschuldigen, Farrell. Ich wollte Sie nicht beleidigen.«
»Ich kann Sie beruhigen, Mylord.« Der junge Mann verzog schmerzlich sein Gesicht. »Ich bin Ihnen schon zuvorgekommen. Ich betrachte den Bürgermeister nicht mehr als einen meiner Verwandten.«
In den nächsten Stunden entfaltete sich im Umkreis von Saxton Hall eine Geschäftigkeit, von der der Lord erst viel später erfahren sollte. Bundy ritt zu mehreren Bauernhöfen und suchte sich dort Männer aus, die das Land bewachen und sich bereithalten sollten. Obwohl keiner Seiner Lordschaft den Dienst verweigerte, verpflichtete er sie alle zum Stillschweigen, um nicht noch durch ein achtloses Wort das Schicksal von Lady Erienne zu verschlimmern.
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