Eine Sache der Ehre. Zwei wahre Geschichten.
Problem für sie dort, wo sie sich jetzt befinden, sehr weit weg und völlig nebensächlich erscheinen mag.
Es stimmt, zuallererst mußten die »Hintergründe« des Stands der Dinge erkannt und untersucht werden. Ich muß Professor Stocchi sagen, daß er in dieser Hinsicht keine Ruhe haben wird. Alle Untersuchungen über Sizilien, bis hin zu Berichten neueren Datums, haben sich niemals in das Labyrinth der Hintergründe hineingewagt, weder mit dem Faden der Ariadne noch mit Hilfe eines potenten Computers.
Deshalb haben sie sich immer darauf beschränkt, eine Landschaft zu beschreiben, die in ihren Augen zwangsläufig unentzifferbar war; mit Hochkommissariaten, Superstaatsanwaltschaften, Superrichtern haben sie versucht, diese Landschaft mit groben, ungeschliffenen Pinselstrichen zu verändern, ohne eine richtige Hand dafür zu haben und ohne die Leinwand, ohne die Zusammensetzung der Farben zu kennen. So reichte jedesmal ein Lösungsmittel aus, um die alte, intakte und vollkommen restaurierte Landschaft wieder ans Licht zu bringen.
Und was Avogadro di Casanova anbelangt – der Generalleutnant hatte sehr gut erkannt, wie eine richtige Untersuchung hätte aussehen müssen. Obendrein hatte er die Hindernisse aufgedeckt (was eine immense Leistung war), die der kulturellen Entwicklung in Sizilien im Wege standen, um es mit seinen eigenen Worten zu sagen. Doch da er eine Uniform trug und in militärischen Fragen als großer Fachmann galt (was er tatsächlich war), mußte er die Probleme von einem militärischen Gesichtspunkt aus behandeln. Er war Soldat, der sich nicht als Philosoph oder Soziologe aufspielen, sondern Lagepläne und Graphiken der Truppenstellungen schicken sollte, keine Absprachebullen.
Daß mittlerweile keine Absprachebullen mehr im Umlauf sind, kann mir nur zur Freude gereichen, auch wenn die Absprachen bleiben. Denke ich aber an die sogenannte bleierne Zeit zurück, überkommt mich eine leichte Sehnsucht nach der Absprachebulle. Diejenigen, die glaubten, den Terrorismus erfinden und ausüben zu müssen, waren zum größten Teil katholisch getauft. Stellen Sie sich vor, mit welcher Begeisterung sie die Bulle aufgenommen hätten. Um einen intelligenten Gebrauch von der Metapher zu machen, so wie der Bauer in meiner Erzählung, hätten sie sich wahrlich nicht anstrengen müssen. Die Bulle hätte uns zwar nicht die Blutspuren erspart, aber den Zirkus mit der Reue, den Lossagungen, den Gewissenskrisen, den Gewissensbissen, den Richtigstellungen, den christlichen Vergebungen. Alle, Mörder wie Nichtmörder, Unschuldige wie Schuldige, hätten sich eines reinen Gewissens erfreuen können.
Als mir die Idee zu diesem Text kam, sagte ich zu Leonardo Sciascia, daß ich etwas über die Absprachebulle schreiben wolle. Er wußte nichts darüber, kannte nur die Absprache, aber nicht deren religiöse Form. So erklärte ich ihm, um was es ging, und bat ihn um bibliographische Unterstützung (ein andermal hatte er mir mit großer Bereitwilligkeit geholfen). Ich mußte unbedingt das Original einer Absprachebulle finden, um meinem Vorhaben mehr Glaubwürdigkeit zu verleihen. Er hielt inne, blickte mich an und lächelte sein ganz spezielles Lächeln. »So ein Papier wirst du nie finden«, sagte er.
Und in der Tat, ich habe es nicht gefunden.
(1991-92)
DAS VERGESSENE
MASSAKER
UNTER DEN BÜCHERN meines Großvaters befand sich eine Tragödie in Versform (selbstverständlich in fünf Akten), die ich als junger Bursche nicht einfach nur gelesen, sondern richtiggehend verschlungen habe. Sie hieß La tragica storia di Issione (Die tragische Geschichte von Ixion), und ihr Autor war der Cavaliere Artidoro Scibetta, ein Notar, wenn ich mich recht erinnere, in Aragona. Die Geschichte weicht keinen Schritt von dem Schema ab, nach dem seit Shakespeare Tausende Blatt Papier mit Tinte getränkt und Millionen Taschentücher mit Tränen genäßt wurden: Es ging um die boykottierte und somit zwangsläufig tragische Liebe zwischen zwei jungen Menschen. Sie hieß Ixion, war Waisenkind, ihre Eltern waren Sklaven gewesen; während er, reich und schön, den Namen des Autors trug, nämlich Artidoros (zu der Zeit und in meinem Alter war ich nicht in der Lage, eine Untersuchung über das autobiographische Element in der Tragödie anzustellen, doch da war nun mal dieser mehr als eindeutige Anhaltspunkt). An einer bestimmten Stelle beauftragt Artidoros’ mächtiger Vater die beiden Meuchelmörder Antemios und Aristogiton, den Onkel
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