Eine Sache der Ehre. Zwei wahre Geschichten.
Heute, da in seinen Räumen die Stadtbibliothek untergebracht ist, ein Filmklub und ein Kulturzirkel Platz gefunden haben und doch nur ein kleiner Teil der vorhandenen Fläche genutzt ist, scheint der Turm mit seiner feuchten, abgestandenen Luft, dem schwachen Licht und den scharfkantigen Wänden die unpassende Nutzung wieder greifbar zu machen und ständig den Verrat zu unterstreichen, der sich zum Schaden seiner eigentlichen Bestimmung abspielt.
»Er besitzt die Form einer abgeschnittenen Pyramide«, schrieb 1926 Professor Baldassare Marullo, Bürgermeister und Stadtschreiber von Porto Empedocle, »obwohl im letzten Abschnitt, vom Gesims aufwärts, die Mauern erneut in der Senkrechten verlaufen und oben eine großflächige Terrasse einfassen, von wo aus dem Auge des Beobachters nichts vom ganzen Küstengestade des Hafenbusens verborgen bleibt. Die scharfen Konturen, die starre, einförmige Linienführung verleihen ihm inmitten von soviel Leben, das bei Tag um ihn herumquirlt, ein wenig heiteres, ja beinahe bedrohliches Aussehen. In den Fundamenten des Turms waren breite Gräben, die als Lebensmitteldepots dienten und nach 1860 völlig verschwanden. Es befindet sich dort noch immer eine große Zisterne, in die das Regenwasser abfließt, das sich im Gebäude sammelt, und das in der Vergangenheit oft den Durst der Bevölkerung zu löschen half. In den oberen Stockwerken liegen weitläufige, doch niedrige und dunkle Zimmer, deren einzige Lichtquelle die winzigen Fenster sind, die obendrein in sechs Meter dicke Wände eingelassen sind. Besonderes Merkmal ist ein riesiger, gemauerter Zylinder, von dem im Innern eine Treppe abgeht, die den ersten Stock mit der Terrasse verbindet, durch die das Gebäude nach oben hin abgeschlossen ist. Wozu diese Innentreppe ohne jede Verbindung mit irgendeinem der Zimmer diente, konnte ich nicht herausfinden, doch alles weist daraufhin, daß sie dort angebracht worden war, um in Gefahrensituationen die lebenslänglich Inhaftierten separat aus der Garnison zu entfernen.«
Man begreift nicht – das sei vorausgeschickt – , wieso der Turm ein anderes als ein »wenig heiteres« Aussehen hätte haben sollen, war er doch im Verlauf vieler Jahre stets klatschnaß oder zumindest stark feucht gewesen; und wenn die »große Zisterne«, die beim Einzug des Marinekommandos mit Erde angefüllt wurde, heute, da noch schlimmerer Wassermangel herrscht als zu Zeiten Karls V, von größtem Nutzen wäre, muß gesagt sein, daß man die Gräben, die »als Lebensmitteldepots dienten und die nach 1860 völlig verschwanden«, auch 1848, also in der uns interessierenden Zeit, ganz und gar nicht hatte verschwinden lassen. Im Gegenteil, nachdem die Trennwände zwischen den einzelnen Gräben abgerissen worden waren, hatte sich ein großer, »gemeiner« Graben gebildet, der zum idealen Ort für die Unterbringung eines Großteils der Lebenslänglichen wurde; er lag praktisch unter dem Meeresspiegel, und der einzige Einlaß bestand aus einer weiträumigen Öffnung auf Bodenhöhe, die wiederum von einem großen Eisengitter in der Waagrechten nach unten hin verschlossen war. Was den gemauerten Zylinder angeht, dessen Zweck Marullo sich nicht zu erklären weiß, muß man einen Augenblick überlegen, denn zusammen mit dem darunter liegenden Graben ist er von grundlegender Bedeutung für unsere Geschichte.
David Macaulay hat die Ereignisse bei den Bauarbeiten eines imaginären walisischen Schlosses zwischen 1277 und 1305 erzählt und sich dazu aller ihm bekannter Kenntnisse über die Militärarchitektur in Europa bedient; von ihm wissen wir, daß die kleineren Aussichtstürme, die seitlich von den massiveren Türmen und höher als dieselben aufragten, zugleich Luftkammern waren. Der von Juan Vega errichtete Turmbau besaß keine Aussichtstürme: Deshalb diente der zylindrische Zentralkörper nicht nur als Vorraum für die Garnison, sondern auch als Luftkammer; tatsächlich bildete die Innentreppe, die ganz eng an der Wand verlief, einen weiteren, völlig freien und kleineren Zylinder. Dieser endete geradewegs über den Gräben, so daß die Lebensmittel, die darin lagerten, mit einem Mindestmaß an Sauerstoff versorgt waren. Sowohl von der Terrasse als auch vom Erdgeschoß aus konnte der Zylinder mit zwei schweren runden Eisendeckeln verschlossen werden: Geschah das, war nicht nur die Treppe völlig isoliert, sondern auch der Graben luftdicht verriegelt.
Apropos Winde und Lüfte, »der einzige Kunsthauch«,
Weitere Kostenlose Bücher