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Eine Sache der Ehre. Zwei wahre Geschichten.

Eine Sache der Ehre. Zwei wahre Geschichten.

Titel: Eine Sache der Ehre. Zwei wahre Geschichten. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrea Camilleri
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revanchieren, indem sie das Dorf weiterhin »den Unterort Molo« nannten, und wer wollte, begriff den versteckten Hohn in jenem »Unter«. Den Einwohnern der Borgata blieb nichts anderes übrig, als die Sache zu schlucken, denn der Begriff »Unterort« war sowohl in administrativer als auch in geographischer Hinsicht – aufgrund der Höhenlage – einwandfrei. Und selbst als Borgata 1853 dank der gnädigen Erlaubnis von Ferdinand II. ausgemeindet wurde und somit eine eigene Gemeindeverwaltung erhielt, hatten die Girgentiner gut lachen. Aus Dankbarkeit dem Herrscher gegenüber hätten die Leute der Borgata ihren Ort gerne »Città Ferdinanda« – Ferdinand-Stadt – genannt, doch wie man sich erzählt, spannen die Girgentiner solche Intrigen, daß die neu entstandene Gemeinde fortan »Molo di Girgenti« hieß. Unter diesen Umständen ist es schwer zu sagen, wieviel sich von der anschließenden Begeisterung für das Risorgimento von seiten der Einwohner des Molo ihrem Vaterlandsgeist verdankt und wieviel der unterschwelligen Überzeugung, daß sie, würde der Spieß umgedreht, endlich die Gelegenheit hätten, sich der Oberherrschaft der verhaßten Provinzhauptstadt zu entziehen. Tatsache ist, daß es mit der Einheit »gelang, die Wundmale auszuwischen, die über lange Jahre in der Seele getragen worden waren«, wie ein Ortshistoriker aufjubelte, der keinen Zweifel ließ und auch nicht lassen wollte, wem jene Stigmata, Messerstichen sehr ähnlich, beizubringen wären. Mit dem königlichen Erlaß vom 4. Januar 1863 verschwand der Name »Molo di Girgenti« endgültig und wurde durch »Porto Empedocle« ersetzt, so genannt zu Ehren eines Philosophen, der aber leider aus Girgenti gebürtig war.
     Doch den schlimmsten Messerhieb sollten die Bewohner von Girgenti – ohne es zu wissen – denen aus Empedocle im Jahr
    1867 beibringen. Am 18. Juni jenes Jahres beschließt die schwangere Caterina Ricci-Gramitto aufgrund einer leichten Cholerawelle (oder einer anderen Epidemie, die Auswahl war
    seinerzeit nicht gerade klein) vorübergehend von Porto Empedocle in ihr Landhaus in Caos auf dem Territorium von Girgenti überzusiedeln. Dort erblickt zehn Tage später Luigi Pirandello das Licht der Welt, der damit den Bewohnern von Empedocle sprichwörtlich entwendet worden war.
     »… diese vier Häuschen auf dem Strand, an deren Mauern bei Schirokko die wütenden Brecher zerschellten… diese kleine Mole, die heute Molo Vecchio heißt, und jener hohe, finstere, eckige Turm, der vielleicht seinerzeit als Garnison von den
     Aragoniern gebaut worden war und wo man die Kerkersträflinge für die Zwangsarbeit hielt: die einzigen Ehrenmänner des Ortes, die Ärmsten!« Zum Trost für die aus Empedocle liegt in diesen Worten Pirandellos eine Art »Vaterschaftsanerkennung« so indirekt wie unbewußt, wenn man den Worten Glauben schenkt, daß in den Augen eines jeden Künstlers kein Ort der Welt so verwildert erscheint wie der eigene Geburtsort.
     »Hoch, finster, eckig« – in Wirklichkeit ist der Turm ein kleines, massives Festungsschloß, das grobschlächtig für die gedachten Zwecke ausgestattet war: Keinem kam es auch nur im entferntesten in den Sinn, daß durch die Anwesenheit irgendeiner Schloßherrin der Ort weniger düster wirken könnte. Um das Maß vollzumachen, muß hinzugefügt werden, daß der Wachturm anfangs mitten im Wasser stand und mit dem Strand nur durch eine Zugbrücke (später dann aus Mauerwerk) verbunden war. Nachdem der Turm unter den Bourbonen zum Zwangsarbeitslager und nach der Schaffung des Einheitsstaats zum Gefängnis geworden war, wechselte er trotz politischer Veränderungen nicht seinen Bestimmungszweck, diente er doch nach wie vor der Verteidigung, wenn auch nicht gegen äußere, sondern gegen innere Feinde oder diejenigen, die jeweils als solche angesehen wurden. Nur die Aufteilung der Räume, der Treppen und der Durchgänge wurde leicht verändert. Am Ende, als der Turm vom Kerker kurz vor Beginn des letzten Krieges zum Sitz des Marinekommandos geworden war – dieses Mal mit einer wahren Umkehrung der Räumlichkeiten –, übernahm er einfach wieder seine ursprüngliche Funktion, und das tat er so gut, daß die Bomben und Kanonenschüsse nur knapp den Verputz der Ringmauern ankratzten (was in Anbetracht der Erdrutsche und Mehrfamilienhäuser neuerer Zeit, die aus Papier zu sein scheinen, nicht zuletzt der Ehrlichkeit des Architekten anzurechnen ist, der ihn im Jahre sechzehnhundert erbaut hatte).

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