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Eine Sache der Ehre. Zwei wahre Geschichten.

Eine Sache der Ehre. Zwei wahre Geschichten.

Titel: Eine Sache der Ehre. Zwei wahre Geschichten. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrea Camilleri
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und bezeichnet in beiden Sprachen zum einen das Gartenwerkzeug Rechen, zum anderen das mehrspitzige Eisengitter, mit dem einst Festungen und Stadteingänge verriegelt wurden. Doch ich möchte daran erinnern, daß der sizilianische Ausdruck auch das Stroh der Futterkrippe meint, an der entlang das Vieh aufgereiht und festgebunden wird. Ich weiß nicht warum, doch klingt die zweite Auslegung in meinen Ohren wesentlich passender.
     Die Lebenslänglichen verloren bei ihrer Einlieferung ins Torre-Gefängnis jeglichen Titel oder Grad, den sie sich zuvor in ihrem Beruf angeeignet hatten (im Register steht tatsächlich in der Spalte »Beruf« einfach nur »Strafsklave«); im Gegenzug zu ihrer Ausbeutung erlangten sie ihre speziellen Qualifikationen wieder, sobald sie einen Fuß aus dem Arbeitslager setzten (und sei der auch in Ketten gelegt). Ohne es zu ahnen (hätte er es geahnt, wäre er zutiefst erschrocken gewesen), gelangte Professor Marullo beim Gedanken an einen Schulmeister, »der viele unserer alten Leute im Rechnen und im Schreiben und Lesen unterrichtete«, zu denselben Schlußfolgerungen wie Engels in Sachen Sklaverei und Blütezeit der griechischen Kultur, nämlich daß Borgata Molo aus der Anwesenheit der Zwangsarbeiter auch auf kulturellem Gebiet große Vorteile zog. Viele von ihnen fanden im Lauf der Jahre in Borgata Molo eine Art Zuhause, denn oft waren ihre Familienangehörigen aus ihren Heimatorten hergekommen und hatten Unterkunft und verständnisvolle Aufnahme gefunden. Ihre Anverwandten täglich zu Gesicht zu bekommen, verschaffte den Eingekerkerten Trost. Trost verschafften sich in zahlreichen Fällen auch die Gefangenenaufseher indem so mancher von ihnen eine Frau aus dem Dorf zur Gefährtin nahm. Das Zusammenleben zwischen den Familien der Gefangenen und denen der Aufseher verlief stets ohne schwerwiegende Zusammenstöße. Die, die es dennoch gab, geschahen nicht aufgrund der unterschiedlichen Rollenverteilung innerhalb des Lagers. Der Volksmund erzählt vielmehr, daß es zwischen den Mitgliedern beider Seiten einige glückliche Ehen gegeben habe. Am Abend wurden die Sträflinge in die Torre gebracht, und glücklich durften sich die schätzen, die in den wenigen Zellen in der Höhe angekettet wurden. Die Unglückseligsten von ihnen aber wurden in den großen Graben gesteckt, dessen Wände Meerwasser schwitzten.

    (Ich habe mich vor einem Jahr in die sogenannte Zelle eines sogenannten Glückspilzes begeben. Es handelte sich um einen Höhlengang von drei Meter Länge, der im ersten Abschnitt, in der Nähe der Tür, kaum mehr als einen Meter zwanzig hoch war, so daß man fast hineinkriechen mußte; der zweite Abschnitt dann war die eigentliche Zelle, nicht höher als eins sechzig und knapp zweieinhalb Meter lang; die Wände waren ohne Verputz und grob aus der Ringmauer gegraben; außerdem gab es einen dicken Kettenring und ein kleines Fenster auf Bodenhöhe mit doppeltem Eisengitter davor. An solchen Höhlen – die Baue von Hasen und Stachelschweinen sind meines Erachtens komfortabler – sind die schönen Worte der bourbonischen Gefängnisreform Ende der fünfziger Jahre nutzlos zerschellt; ebenso die der Reform des italienischen Einheitsstaates von 1891 – dessen parlamentarische Arbeit übrigens zum Trost der Gefängnisinsassen zwanzig Jahre zuvor begonnen hatte –, die der zwei Reformrundschreiben unter Giolitti aus den Jahren 1902 und 1903, die des Zusatzrundschreibens für eine Reform aus dem Jahr 1907, die der »modernen« Reform von 1921-22, die der faschistischen Reform von 1931 und die des heiligen Schwachsinns, der sich auch »Reglement der Gefängnisarbeit« von 1932 nennt. Es war und ist eine Höhle geblieben. Ich war erst wenige Sekunden drin, als mir schon die Luft ausging bei dem Gedanken, daß ein gewöhnlicher Häftling Tag und Nacht dort eingeschlossen blieb, ohne das Privileg zu haben – wie man so schön sagt –, als Lebenslänglicher jeden Morgen am »Rechen« angekettet zu werden.
     »Zumindest konnte er von hier aus das Meer sehen«, sagte ich zu den zwei Freunden, die mich begleiteten, und versuchte mir zugleich Mut zuzusprechen. Pepe Fiorentino, einer der beiden, warf mir einen kurzen Blick zu und sagte: »Du vergißt, daß damals Löwenmaul an den Fenstern wuchs, das sie jetzt weggemacht haben.«
     »Im Höchstfall«, fügte Fofò Gaglio hinzu, »konnte er, wenn er sich auf den Bauch legte und das Gesicht gegen das Gitter preßte, einen Himmelsstreifen sehen.«
     Auf

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