Eine Schwester zum Glück
Taschentuch zurückzubekommen, beobachtete er mich eingehend.
»Ich hab mich heute nicht so ganz im Griff«, sagte ich – was selbstverständlich eine lächerliche Untertreibung war. In New York war es mir niemals so ergangen. Dort funktionierte ich und besaß Würde. Ich trug tolle Klamotten, hielt den Kopf hoch und stolzierte durch die Stadt, als könnte mir keiner etwas anhaben. In New York war ich völlig unantastbar. Wie hatte es mir so völlig den Boden unter den Füßen wegziehen können, bloß weil ich nach Hause gekommen war?
Doch Everett erzählte mir eine Geschichte: »Als ich noch ein Kind war, hat mich meine Mutter einmal in den Nussknacker mitgenommen.« Er lehnte sich an die Motorhaube, um fortzufahren: »Es waren Ferien, es wimmelte dort nur so von Kindern, und irgendwie bin ich von ihr getrennt worden. Ich wanderte lange Zeit umher, und schließlich landete ich hinter der Bühne in der Garderobe der Tänzerinnen. Dort hat man mich gefunden: Ich lehnte einfach an einem Hocker und sah zu, wie sich die Frauen ankleideten. Das Ballett selbst war eine große Enttäuschung.«
»Sicher.« Ich sah immer noch nicht hoch.
»Ich glaube, so ist das bei mir«, fuhr er fort. »Ich interessiere mich viel mehr für die Menschen, wenn sie nicht ihre Kostüme anhaben.«
Da konnte ich nicht anders, sondern hob den Blick. »Oder vielleicht magst du einfach nackte Frauen.«
Sein Gesicht verzog sich zu einem Lächeln. »Das außer dem.«
Ich gab das Taschentuch zurück. Es war Zeit loszu fahren.
Zuvor bedankte ich mich ein letztes Mal bei Everett, bezeichnete ihn als Autoalarmanlagen-Genie und schüttelte ihm möglicherweise sogar die Hand. Und dann fuhr ich, mich genau an die Geschwindigkeitsbegrenzung haltend, nach Hause – die Türen nicht verriegelt, das Jackett aufgeknöpft. Die Ereignisse des Tages schwirrten mir durch den Kopf, und die Erinnerung an seine Hände auf meinem Körper verwirrte mich.
7
A m Abend war ich wegen vielem wütend auf Mackie: weil sie so glücklich verheiratet war, weil sie nicht schon vor langer Zeit ihre kaputte Autoalarmanlage hatte reparieren lassen, wegen ihrer Kuppelei, obwohl ich sie ausdrücklich gebeten hatte, es sein zu lassen, weil sie mir gesagt hatte, ich wäre die aussichtsreichste Kanditatin bei dem fiesesten Vorstellungsgesprächsführer, dem ich je begegnet war, und auch, wenn ich ganz ehrlich bin, auf in direkte und höchst ungerechte Art und Weise, weil sie mich hatte schwanger werden lassen und mich meiner Jugend und Schönheit beraubte. Auch wenn Letzteres ein bisschen weit hergeholt war.
Ich aß immer noch viel auf meinem Zimmer, besonders wenn Clive zu Hause war, aber an dem Abend war ich zu erschöpft, um mich zu verdrücken. Außerdem sehnte ich mich nach Gesellschaft. Und wenn es Mackie und Clive waren. In der Not durfte ich nicht wählerisch sein.
Mackies Vergehen schwirrten mir während unseres gemeinsamen Essens im Kopf herum. Sie und Clive saßen an einer Seite des Tisches und fütterten einander von ihren Tellern, mischten ihre Salatzutaten in endlosen superleckeren Kombinationen, die der jeweils andere einfach kosten musste . Sie liebkosten die Gabel des anderen, wisch ten einander den Mund mit dem Daumen ab.
»Was ist das hier, Tom Jones? «, meinte ich. »Ihr seid echt widerlich.« Sie kicherten, wie glückliche Menschen es tun, doch ich sagte: »Könnten wir bitte über etwas reden? Oder irgendetwas tun, was nicht darin besteht, die Finger des anderen abzulecken?«
»Tut mir leid«, sagte Clive. Dann erzählte er mir, dass Clacker Toys gerade verklagt würden.
»Tatsächlich?«, fragte ich. »Und warum?«
»Anscheinend«, meinte Clive, »gibt es irgendwo in Mon tana einen kleinen Spielzeugladen namens Clicker Toys, der entschieden hat, dass wir ihm Kundschaft stehlen.«
»Das ist verrückt«, sagte ich.
»Yep«, sagte Clive. Ihr früherer Anwalt hatte es bloß als kleines Ärgernis angesehen und dem Ganzen keine Beachtung geschenkt. Doch mittlerweile war es zu einem großen Problem geworden. Also würde Clive den ganzen Samstag mit Everett Thompson verbringen, um eine Hand lungsstrategie zu entwickeln, und Mackie würde ihnen das Mittagessen vorbeifahren.
Sie fragte sich laut, was sie bringen sollte, und ich sagte: »Bring einfach etwas Luft und Liebe. Die könnt ihr doch essen, nicht wahr?« Aber sie waren schon wieder in Flirtlaune – Mackie steckte Clive gerade mit den Fingern eine kleine Ofenkartoffel in den Mund –, und sie
Weitere Kostenlose Bücher