Eine Schwester zum Glück
Arktis-Expeditionen. Er ließ mich sein Auto fahren, selbst als ich noch keinen Führerschein hatte – und eines Abends auf der rasanten Heimfahrt, um es noch bis zur Sperrstunde zu schaffen, war ich in der falschen Richtung in eine Einbahnstraße eingebogen. Um ein Haar wären wir mit einem Cadillac zusammengestoßen, und nachdem das Gehupe vorbei war, wir in eine Seitenstraße eingebogen waren und ich den Wagen anhielt, schnallte er sich los, beugte sich zu mir herüber und küsste mich zum allerersten Mal. Als wir Atem holten, sagte er: »Ich glaub’ einfach nicht, dass ich fast gestorben wäre, ohne je so weit gekommen zu sein.«
Aber das waren alles veraltete Belanglosigkeiten. Ich wusste nicht das Geringste über den erwachsenen Everett. War er Republikaner oder Demokrat? Mochte er Katzen oder lieber Hunde? Glaubte er an Gott? Lebte er seinen Verhältnissen entsprechend? Las er beim Frühstück die Zeitung? Hörte er National Public Radio? War er An hänger von Sportvereinen? Fuhr er zu schnell Auto? Auch wenn vielleicht genau dies das Verliebtsein ausmacht – neugierig auf jemanden zu sein und diese Dinge herausfinden zu wollen. Auf der Party machte ich ein Spiel: Ich zwang mich, Everett ein paar Minuten nicht anzusehen – und Graham seine ganze Geschichte zu Ende erzählen zu lassen, wie er seinen Laptop auf dem Weg zu seiner Informatik-Abschlussprüfung in eine Pfütze fallen ließ. Ich wendete den Blick nicht von seinem Eckzahnstumpf ab, während er redete, und hatte schließlich dreimal gefragt: »Ist die Geschichte zu Ende?« Als wir es endlich geschafft hatten und ich schließlich den Blick auf der Suche nach Everett durch die Abendluft schweifen ließ, schwanden mir bei seinem Anblick die Sinne. Vielleicht waren es auch nur die Babys, die strampelten. Oder ich hatte zu lange nichts gegessen. Wie auch immer, ich verlor genau in dem Augenblick das Gleichgewicht und musste mich an Grahams Arm festhalten.
Ich dachte, es wäre niemandem aufgefallen, aber in der nächsten Sekunde stand Everett direkt neben mir. Seine Hand lag auf meinem Arm, und ich spürte bei seiner Berührung einen elektrischen Schlag, dann sah ich ihm in die Augen. »Alles in Ordnung. Ich bin bloß –« An dieser Stelle wollte ich gerade dahingeschmolzen sagen. Auch wenn er gerade ein offizielles Date mit einer anderen hatte, schien es genau das Richtige zu sein.
Doch bevor ich es sagen konnte, kreuzte Barni auf – ihr Gesicht war direkt vor meinem und ihre Stimme laut wie eine Sirene. »Clive hat uns eben noch einmal die Geschichte erzählt, wie du in den Pool gefallen bist! War es dir nicht wahnsinnig peinlich, als dich alle ausgelacht haben? Wärst du nicht am liebsten gestorben?«
Der Augenblick war vorbei. Stattdessen wünschte ich mir, ich wäre richtig in Ohnmacht gefallen. Dann hätte Everett einen Vorwand gehabt, zu gehen, und mich ins Krankenhaus fahren können. Doch bloß weil mir die Sinne schwanden, war das noch lange kein Grund, dass Everett seine Verabredung sitzen ließ. Ich bedachte ihn mit einem Blick, der besagen sollte: Komm wieder zu mir zurück, sobald sich dir die Möglichkeit bietet freizukommen.
Und er schenkte mir einen Blick, von dem ich hätte schwören können, dass er antwortete: Auf jeden Fall!
Doch der Abend zog sich in die Länge. Da Barni hier wohnte, konnte Everett sie ja nicht einfach nach Hause bringen. Sie blieben und blieben, wobei Barni posierte und kreischend über jedes einzelne Wort aus Everetts Mund lachte. Ich hoffte, Everett würde sie vielleicht bis zu ihrem Apartment begleiten und dann zu mir zurückkommen, doch als er vorschlug, sie nach oben zu bringen, lehnte sie sich an ihn und sagte: »Es ist noch nicht einmal Mitternacht! Was bist du denn – ein Kürbis?«
Sie war sexy. Das musste ich ihr lassen. Oder vielleicht eine Karikatur von sexy. Doch sie wusste zweifellos, wie sie sich zu verhalten hatte. Wo lernt eine Frau, sich derart zu bewegen – und wie findet eine Medizinstudentin die nötige Zeit? Sie hätte in einem Musikvideo sein können, auf einem Laufsteg oder in einem Stripclub.
Ich schaffte es nicht, länger als sie zu bleiben. Mackie wollte ihnen ernsthaft ein wenig Privatsphäre verschaffen, damit ihre Liebesverbindung knospen könnte. Sie bestand darauf, dass ich mich verabschiedete, und zog mich an der Hand ins Haus.
Mir entging die Ironie nicht, dass ich just in dem Moment Interesse an Everett entwickelt hatte, in dem Mackie offiziell damit aufgehört hatte,
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