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Eine Schwester zum Glück

Eine Schwester zum Glück

Titel: Eine Schwester zum Glück Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katherine Center
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ihm die ganze Geschichte erzählt hatte.
    Es war schlimm. J. J. hatte einen ganzen Flug lang darüber nachgegrübelt, wie schlimm. »Sie könnte tot sein«, sagte er. »Oder verstümmelt. Sie könnte sich verlaufen haben, verletzt sein oder in der Falle sitzen.« Er legte den Kopf in die Hände. »Auf dem Highway hätte sie sonst wer aufgabeln können.«
    War das hier Liebe oder Wahn? Süß oder unheimlich? Leidenschaft oder Perversion? Es war schwer zu sagen.
    »Du hast also angerufen und wolltest mit ihr reden?«
    Er nickte.
    »Und sie haben gesagt, dass sie verschwunden ist?«
    Er nickte.
    »Und dann bist du in den nächsten Flieger nach Texas gestiegen?«
    Er nickte erneut.
    »Hast du deiner Frau gesagt, wo du hinwolltest?«
    »Sie denkt, ich wäre beim Angeln.«
    »Vielleicht ist das ein Segen«, sagte ich. Und dann: »Ist sie immer noch schwanger?«
    Er stieß immer wieder mit dem Kopf an die Fensterscheibe.
    »J. J.«, sagte ich. »Selbst wenn du dieses Mädchen finden solltest, kannst du nicht mit ihr zusammen sein.«
    »Was meinst du damit?«
    »Sie ist ein Kind«, sagte ich. »Oder zumindest ist sie nicht erwachsen.«
    »Ich liebe sie«, sagte J. J.
    »Das ist unmöglich. Das ist einfach unmöglich. Sie hatte noch nicht einmal einen einzigen Orgasmus.«
    »Das hat sie dir erzählt?«
    »Hat sie. Und es liegt nicht bloß daran, dass du mies im Bett bist, auch wenn das bestimmt keine Hilfe ist.«
    Er legte wieder den Kopf in die Hände.
    »Es liegt daran, dass sie im Bett posiert, J. J. Sie ist so damit beschäftigt zu posieren, dass ihr das Eigentliche entgeht.« Ich hielt eine Minute inne, bis mich die Erkenntnis traf: »Und das gilt nicht nur für den Sex. Das gilt für ihr ganzes Leben.«
    Wir umkreisten dieses Thema wieder und wieder. Ich versuchte ihm begreiflich zu machen, dass das Mädchen, das von unserer Agentur zu einem landesweiten Sexsymbol gemacht worden war, gar kein Interesse an Sex hatte. Und er weigerte sich einzusehen, inwiefern das mit dem vorliegenden Thema zu tun haben sollte.
    »Du musst dieses Mädchen in Ruhe lassen und zu deiner Frau zurückkehren«, sagte ich. »Verhalte dich endlich wie ein Erwachsener!«
    »Aber sie liebt mich«, gab er zu bedenken.
    »Sie weiß nicht, was Liebe ist«, widersprach ich. »Und du auch nicht.«
    »Ich muss sie bloß wiedersehen.«
    »Du kennst ja noch nicht einmal ihren Namen!«, rief ich. »Und weißt du was, Mr. Dynamite? Sie deinen auch nicht!«
    Als wir in der Rancho-Verde-Klinik eintrafen, sagte J. J. der Empfangsdame seine Meinung. Wie hatten sie nur so nachlässig sein können? Wussten sie denn nicht, dass sie ein zartbesaiteter Mensch war – und auch ein klein wenig verschlagen? Er stampfte mit den Füßen auf. Er schlug mit der Hand auf die Rezeptionstheke. Er drohte mit einer Klage. Schließlich rief die Empfangsdame beim Direktor zu Hause an und bat ihn herzukommen.
    Ein paar Minuten später traf der Direktor ohne Jackett oder Krawatte ein und hörte sich reglos an, wie J. J. eine Zugabe dranhängte. Die Sonne ging allmählich unter, und der Direktor hatte ganz den Anschein eines Mannes, der eben den ersten Bissen von seinem Abendessen zu sich nehmen wollte, als das Telefon läutete. Er überflog Aprils Akte, und J. J. stand selbstgerecht neben ihm, ein wenig außer Atem, mit bebenden Nasenflügeln.
    »Es sieht so aus, als sei Miss Schneider jetzt zu Hause bei ihren Eltern«, setzte der Direktor an.
    »Miss Schneider?«, erboste sich J. J. »Das ist ja noch nicht einmal die richtige Akte!«
    Doch ich stupste ihn an und nickte dann. »Das ist die richtige Akte. April May Schneider.«
    J. J. starrte mich an, während der Direktor sagte: »Ich kann Ihnen nicht die Kontaktdaten der Familie geben. Aber ich mache mich jetzt wieder auf den Heimweg, um zu Abend zu essen. Und ich werde die Akte gedankenlos hier am Empfang liegen lassen.«
    Er ging. Wir schrieben die Nummer auf ein Post-it und kehrten zurück zum Wagen.
    Ich hatte Hoffnungen für April gehegt: Sie würde vielleicht auf Rancho Verde arbeiten und ihr Leben inmitten des hohen Grases in Jeans und Turnschuhen verbringen, Eier einsammeln und Pferde striegeln. Vielleicht würde sie Naturforscherin werden oder Vogelbeobachterin. Ich malte mir ein Happy End für sie aus, ein einfaches, natürliches Leben auf dem Land. Doch vielleicht ging ich zu weit, indem ich einen Plan für ihr Glück aufstellte, wenn man bedachte, dass ich es nicht einmal bei mir selbst schaffte.
    Was wusste ich schon?

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