Eine skandalöse Braut
ersten Mal genommen hast. Ich erinnere mich allzu gut an die wärmenden Sonnenstrahlen, an das dekadente Gefühl, wie meine offenen Haare sich über das Gras ergossen, und natürlich daran, wie Du dich angefühlt hast, als es geschah. Zuerst der Schmerz, dann aber die Lust … Ich habe es nicht gewusst. Meine Mutter hätte mich vermutlich informiert, sobald ich vor meiner Hochzeitsnacht gestanden hätte, aber alles, was ich brauchte, um es zu verstehen, fand ich in Deinen Augen und Deinen Berührungen. Wie sehr ich Dich wollte!
Das Wort »leidenschaftlich« ließ ihn aufmerken. Er ließ die Zeitung sinken. »Von wem?«
»Ich weiß nicht, wer sie mir schickt.«
»Sie sind nicht unterzeichnet?« Er griff nach seiner Kaffeetasse und hob sie an den Mund.
»Doch, sie sind unterzeichnet. Ich weiß bloß nicht, wer sie mir schickt.«
Seine Augenbrauen zogen sich finster zusammen. »Was zum Teuf… Hm, also, was soll das heißen? Wenn sie unterzeichnet sind, musst du doch wissen, wer sie dir schickt, Amelia.«
»Sie sind von Anna St. James unterzeichnet und wurden vor vielen Jahren geschrieben.«
»St. James!« Seine Tasse knallte mit so viel Wucht auf die Untertasse neben seinem Teller, dass sie überrascht war, weil sie nicht zerbrach. »Wie?!«
Beim Klang seiner erhobenen Stimme kam der Lakai ins Zimmer gestürzt. Aber ihr Vater wedelte bloß mit der Hand und scheuchte ihn fort. Steif sagte er: »Ich würde es bevorzugen, wenn du den Namen dieser Metze in meiner Gegenwart nicht mehr erwähnst.«
Nachdem sie die zärtlichen, wenngleich skandalösen Worte gelesen hatte, die in der fließenden Handschrift dieser Frau verfasst waren, hatte Amelia nicht das Gefühl, der Begriff Metze passe zu ihr. Aber angesichts der Miene ihres Vaters schien es ihr nicht ratsam, diesen Punkt zu diskutieren. »Ich habe mich gefragt, ob du vielleicht eine Ahnung hast, warum mir jemand ihre Briefe schicken sollte.«
»Da scheint jemand einen abgeschmackten Sinn für Humor zu haben, wenn du mich fragst.« Seine Stimme klang grimmig.
»Ich wüsste gerne, was damals passiert ist.«
Er warf seine Serviette auf den Tisch und stand auf. »Nein, das wirst du nicht erfahren. Es ist eine hässliche Angelegenheit, die es nicht verdient, weitererzählt zu werden.« Im Licht der Morgensonne wirkte sein Gesicht verschlossen und kalt.
»Viele Männer halten sich eine Mätresse.« Amelia hielt seinem Blick stand. Sie weigerte sich, nachzugeben. »Aber gewöhnlich handelt es sich wohl nicht um die Töchter von Dukes. Sie hat für ihre Liebe viel aufs Spiel gesetzt.«
»Wenn meine Tochter von Mätressen spricht, gefällt mir das gar nicht. Im Übrigen habe ich den Eindruck, du verklärst die damaligen Ereignisse. Lass das Thema ruhen.«
Die scharfen, gefühllosen Worte verwirrten sie. Durch die Gedanken und Gefühle, die sie in ihrer Korrespondenz zum Ausdruck brachte, wurde Anna für sie zu einer realen Person. »Vergib mir, aber ich versuche nicht, dir zu gefallen oder dein Missfallen zu erregen. Diese Angelegenheit betrifft unsere Familie, deshalb betrifft sie auch mich. Und ich bin kein Kind mehr«, erinnerte Amelia ihn. Unwillkürlich stieg in einem verräterischen Teil ihres Verstands wieder das warme und erregende Gefühl herauf, als Alex St. James sie geküsst hatte. »Ich bin alt genug, um zu heiraten, deshalb bin ich auch alt genug, um zu verstehen, wie unsere Gesellschaft funktioniert. Das Privileg der Männer ist für mich kein Geheimnis.«
»Das sollte es aber sein«, brachte er gefährlich leise hervor. Sie schnappte die Bemerkung auf.
»Warum?«
Jetzt sagte er vernehmlich: »Geheimnis oder nicht, es gibt einige Themen, die eine Lady nicht anschneidet.«
»Wie zum Beispiel die Frage, warum mein Großvater eine unschuldige junge Frau verführt hat?«
Vielleicht hätte sie nicht so weit gehen dürfen. Sein Gesicht nahm eine merkwürdige, tiefrote Farbe an. Es kostete ihn sichtlich Mühe, sich zu bezähmen. »Wer hat dir das erzählt?«
Sie hatte nicht vor, Alex in die Sache hineinzuziehen, weshalb sie bloß den Kopf schüttelte. »Das ist egal. Stimmt es?«
»Falls Sophia dafür verantwortlich ist, dir diese ganze Geschichte …«
»Natürlich nicht«, sagte sie rasch. Tante Sophia war manchmal etwas unkonventionell, aber sie nahm ihre Rolle als Anstandsdame ernst.
Wenigstens das schien ihr Vater als Tatsache zu akzeptieren. »Bitte, Amelia. Das alles ist vor Jahrzehnten passiert. Es ist das Beste, wenn du das leidige Thema
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