Eine skandalöse Lady
ihrem Bruder hinterher und jagte ihn den mit Bäumen gesäumten Weg hinab.
Während Lottie ihnen nachsah, schlang Laura ihr einen Arm um die Taille. »Warum so wehmütig? Du kannst mir nicht weismachen, du hättest ihr ständiges Gezanke vermisst.«
»Ich habe nur daran gedacht, wie gerne ich sie jemandem vorstellen würde, den ich kenne.«
»Deiner Tochter?«
Ihr fiel auf, dass sie Allegra nie als ihre Tochter betrachtet hatte, bis zu dem Augenblick gerade eben, und ihr wurde die Kehle eng. »Ja«, sagte sie leise, »meiner Tochter.«
Sterling betrachtete verwundert die Kutsche. »Wo ist denn der aufmerksamste aller Ehemänner? Wenn er sich in der Kutsche versteckt und nicht heraustraut, weil er Angst hat, ich könnte ihn erschießen, dann kannst du ihm sagen, dass Addison meine Duellpistolen sicher weggesperrt hat.«
Lottie holte so tief Luft, wie ihr Korsett es ihr gestattete. Dies war der Moment, vor dem ihr gegraut hatte. Sie setzte eine fröhliche Miene auf und wandte sich lächelnd an ihren Schwager. »Ich fürchte, Hayden war nicht in der Lage, mich zu begleiten. Zu dieser Zeit im Jahr gibt es so viel zu tun, dass er auf Oakwylde unabkömmlich ist. Trotzdem hat er darauf bestanden, dass ich komme. Er weiß, wie sehr ihr mir alle fehlt, und er wollte mich nicht länger eurer Gesellschaft berauben.«
Sterling lachte leise. »So wie ich es aus deinen Briefen verstanden habe, ist er von seiner reizenden jungen Frau völlig hingerissen. Mich wundert es, dass ihr beide es ertragt, mehr als einen Tag voneinander getrennt zu sein.«
George bemerkte spöttisch: »Oder eine Stunde.«
»George«, mahnte Laura leise und legte ihrem Bruder warnend eine Hand auf den Arm, während sie Lottie eindringlich musterte.
Lottie spürte, wie ihr Lächeln zu wanken begann. Sie hatte keine einzige Träne vergossen, seit sie Oakwylde verlassen hatten, aber nun begann es gefährlich in ihren Augen zu brennen. Sich schmerzlich Sir Neds mitleidigem Blick bewusst, sagte sie: »Natürlich ist es entsetzlich schwer für uns, getrennt zu sein, gleichgültig für wie lange. Ich bin mir sicher, er ist ohne mich genauso verloren wie ich ohne ihn.«
George, der das wachsende Unbehagen seiner Schwester nicht bemerkte, klopfte ihr aufmunternd auf die Schulter. »Wenn du den armen Kerl so völlig unter deinem Pantoffel hast, wie lange lässt er dich hier bei uns?«
»Für immer, fürchte ich«, platzte Lottie heraus, brach in Tränen aus und warf sich in Lauras Arme.
Schließlich saß Lottie allein in ihrem alten Bett, einen Berg weicher weißer Kissen im Rücken. Obwohl es ein milder Sommerabend war, knisterte im Kamin ein behagliches Feuer und heizte das geräumige Schlafzimmer. Cookie hatte sogar einen in Tuch geschlagenen, heißen Ziegelstein unter die Laken am Fußende gesteckt, um ihre Zehen zu wärmen. Kürbis und Mr. Zappel maßen sich mit finsteren Blicken, während sie darum rangen, wem das Privileg zuteil werden würde, sich darauf auszustrecken.
Früher einmal hätte Lottie es genossen, von ihrer Familie verhätschelt zu werden, aber heute Nacht hatte sie nur Erleichterung verspürt, als Laura sie schließlich alle aus dem Raum gescheucht hatte. Sie glaubte nicht, dass sie Dianas oder Cookies mitleidiges Zungenschnalzen noch eine Minute länger ertragen hätte, ebenso wenig wie Sterlings, Georges und Thanes Drohungen, ihren Schuft von einem Ehemann zur Strecke zu bringen und ihm das Herz aus dem Leib zu reißen, weil er sie zum Weinen gebracht hatte.
Laura war als Letzte gegangen; nachdem sie Lottie tröstend die Hand gedrückt hatte, sagte sie noch: »Wenn du bereit bist, darüber zu sprechen – ich bin immer für dich da.«
Lottie schlug die Decken zurück und kletterte aus dem Bett. So angenehm es auch war, von ihrer Familie umsorgt zu werden, sie war kein kleines Mädchen mehr. Sie hatte das Alter längst hinter sich gelassen, in dem ein gebrochenes Herz mit einer Tasse heißer Schokolade und einem noch warmen Stück von Cookies Pfefferkuchen geheilt werden konnte.
Es dauerte nicht lange, das zu finden, wonach sie gesucht hatte. Ihr Schreibset hatte sie zuoberst in ihre hastig gepackte Reisetruhe gelegt. Sie setzte sich ans Fußende ihres Bettes, zog die Füße hoch, damit Mirabella nicht unter dem Bett hervorgeschossen kam, um sie anzugreifen, und öffnete den Kasten. Sie hatte die Seiten ihres Manuskriptes eilig hineingestopft, ohne sich die Mühe zu machen, sie ordentlich zusammenzuschieben. Es war ihr egal
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