Eine skandalöse Lady
Stück vor der Kutsche, die breiten Schultern in den Wind gestemmt.
Sie würde der Versuchung nicht nachgeben, gemahnte sie sich streng und faltete ihre behandschuhten Hände fest im Schoß. Sie war nun eine Lady, eine Marquise. Und eine Marquise würde sich nie dazu herablassen, in den Sachen anderer herumzuschnüffeln, gleichgültig wie verlockend die Gelegenheit auch war.
»Tugend ist sich selber Lohn. Tugend ist sich selber Lohn«, wiederholte sie halblaut. Vielleicht würde sie Mrs. Terwilligers Lieblingssinnspruch sogar irgendwann glauben, wenn sie ihn sich nur oft genug vorsagte.
Als wollte es ihre Entschlussfestigkeit testen, fiel ein Strahl Sonnenlicht durch das Kutschenfenster und ließ den Messingbeschlag golden glitzern. Lottie biss sich auf die Lippe und stöhnte tonlos. Wäre sie Parzival, der Heilige Gral hätte nicht verführerischer aussehen können.
Den erschreckten Kater auf den Sitz neben sich schiebend, kniete sie sich auf den Kutschenboden und zog den länglichen Kasten aus seinem Versteck. Sie fuhr mit den Händen über den Deckel und stellte fest, dass er verschlossen war.
Da sie über einige Erfahrung darin verfügte, ihre Nase ungebeten in Angelegenheiten zu stecken, die sie eigentlich nichts angingen, nahm Lottie einfach eine Hutnadel von ihrem Kopf und machte sich an dem Schloss zu schaffen. Sie war so in ihre Aufgabe versunken, dass sie es nicht bemerkte, als die Kutsche zu schaukeln aufhörte und zum Stehen kam. Die Kutschentür wurde geöffnet, und ein Mann räusperte sich hinter ihr.
Sie erstarrte, sich nur zu deutlich der Tatsache bewusst, dass ihr Ehemann einen ungehinderten Ausblick auf ihre Kehrseite genoss. Dankbar für ihre voluminösen Röcke, versetzte sie dem Kasten einen Schubs, sodass er an seinen Platz unter dem Sitz zurückrutschte.
Ihre Hutnadel triumphierend in die Höhe haltend, sagte sie über ihre Schulter zu Hayden: »Mir ist eine Hutnadel heruntergefallen. Aber ich habe sie wieder gefunden.«
»Das ist ein glücklicher Umstand«, erwiderte er gedehnt und beäugte das hohe Gebilde aus bunten Bändern und Blumen auf ihrem Kopf. »Wir wollen schließlich nicht, dass Sie diesen Hut verlieren.«
Ehe er noch irgendetwas sagen konnte, wurde er von dem Anblick der rotbraunen Katze abgelenkt, die auf dem Sitz thronte wie ein dicker Pascha in einer Sänfte.
Stirnrunzelnd musterte er das Tier. »Das ist merkwürdig. Ich hätte schwören können, Ihre Katze sei schwarz.«
Lottie erhob sich und nahm auf dem gegenüberliegenden Sitz Platz: »Das muss eine optische Täuschung gewesen sein. Wenn er schwarz wäre, hätte ich ihn schließlich nie Kürbis genannt, nicht wahr?«
»Kürbis?« Hayden kniff die Augen zusammen. »Ich dachte, er hieße Mr. Zappel?«
»Das stimmt auch«, erwiderte sie. »Mr. Kürbis Zappel.«
Die Katze streckte und reckte sich, und sah viel zu fett und faul aus, um je einer so anstrengenden Tätigkeit wie zappeln nachgegangen zu sein.
Hayden holte tief Luft, griff unter seinen Kragen und rieb sich den Nacken. »Wir haben an der Poststation hier angehalten, um die Pferde zu wechseln. Ich dachte, Sie hätten vielleicht gerne eine Erfrischung.« Er nickte zu dem Korb neben ihr, und in seine Augen trat ein listiges Funkeln. »Es sei denn, natürlich, Sie würden Ihren Proviant mit mir teilen.«
»Oh nein!« Lottie kam an die Tür. »Ich werde ihn mir für nachher aufheben. Cookie hat nur eine Portion eingepackt.«
Sie nahm die Hand, die er ihr reichte, und spürte seine Wärme durch das Leder ihrer Handschuhe, als sie aus der Kutsche stieg. Sie war beinahe an der Tür des Gasthofes angekommen, ehe ihr auffiel, dass er ihr nicht folgte.
Sie drehte sich um. »Kommen Sie nicht mit?«
Er schaute weiterhin in die Kutsche, seine Miene war nachdenklich. »Nein, ich denke nicht, dass ich es will. Es scheint, dass ich meinen Appetit verloren habe.«
Als Lottie kurze Zeit später zu der Kutsche zurückkehrte, entschlossen, den Korb aus der Kutsche zu schmuggeln, während Hayden in den Ställen beschäftigt war, befanden sich sowohl der Korb als auch Kürbis noch dort, wo sie sie gelassen hatte.
Der geheimnisvolle Kasten jedoch war verschwunden.
Lottie versuchte, nicht an die vor ihr liegende Nacht zu denken. Als aber die Schatten der Hecken länger wurden und die Dämmerung hereinbrach, die die am Fenster vorbeifliegenden Felder in violettes und graues Licht tauchte, konnte sie nicht länger so tun, als würde der heutige Tag und damit ihre Unschuld
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