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Eine skandalöse Lady

Eine skandalöse Lady

Titel: Eine skandalöse Lady Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Teresa Medeiros
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straucheln.
    Allegras kleine Finger flogen über die Klaviertasten und entlockten dem Instrument Töne, die mit solcher Wut und solchem Leid angefüllt waren, die kein Kind ihres Alters kennen sollte. Tränen rannen ihr über die blassen Wangen, während sie spielte, doch ihre gebannte Konzentration wich nie von den Notenblättern vor sich ab, noch nicht einmal, als Lottie in ihr Blickfeld trat, die wie von unsichtbaren Kräften zu der Schöpferin solch erstaunlicher Kunst gezogen wurde.
    Allegra schlug in die Tasten und beendete das Notturno mit einem kraftvollen Anschwellen der Melodie.
    »Wie?«, flüsterte Lottie in die ohrenbetäubende Stille, die darauf folgte.
    Allegra verschränkte ihre Hände im Schoß. Plötzlich waren es wieder die Hände eines Kindes, ungeschickt und unbeholfen. »Es gibt einen Geheimgang hinter dem Kaminsims, der in den zweiten Stock hinaufführt. Mama und ich haben dort immer Verstecken gespielt. Papa« – sie stolperte über das Wort, fasste sich aber rasch wieder –, »mein Vater konnte uns nie finden, wenn wir uns da versteckt haben.«
    »Ich meinte, wie du gelernt hast, so zu spielen?« Lottie deutete auf die Tasten, und der nachwirkende Schreck beraubte sie aller Wortgewandtheit. »So?«
    »Mama hat mich unterrichtet bis sie starb.« Das Mädchen hob die schmalen Schultern. »Es war nie so schwer für mich, wie für andere Leute.«
    Lottie schüttelte den Kopf. Allegra war ein Wunderkind und ahnte noch nicht einmal etwas davon. »Ich dachte, du kannst dich nicht mehr an deine Mutter erinnern.«
    »Oh, ich erinnere mich noch sehr gut an sie!« Ihre Augen leuchteten leidenschaftlich auf. »Er will es nicht, aber ich tue es. Sie war lieb, freundlich und lustig, hat immerzu gelacht und gesungen. Sie konnte stundenlang mit mir auf dem Fußboden sitzen und hat gemalt oder mir ein neues Lied beigebracht. Sie hat mich all ihre Hüte tragen lassen, und wir haben zusammen mit meinen Puppen Tee getrunken.«
    Lottie lächelte wehmütig und wünschte sich, sie hätte auch solche Erinnerungen an ihre eigene Mutter. »Du musst sie sehr vermissen.«
    Allegra stand von der Klavierbank auf. Sie ging auf dem Parkettboden auf und ab und raffte den dünnen Leinenstoff mit beiden Händen, damit sie nicht über den Saum des viel zu großen Nachthemdes stolperte. »Ich wollte nie ein Gespenst werden, weißt du? Wann immer Vater fort war, habe ich mich hierher geschlichen und Klavier gespielt. Mir war gar nicht klar, dass mich die Diener hören konnten, bis ich eines Morgens Meggie und Martha darüber flüstern gehört habe, dass es hier spukt.«
    »Aber du hast nicht aufgehört.«
    »Nein«, gab Allegra mit trotzigem Blick zu. »Das habe ich nicht. Nach einer Weile habe ich sogar zu spielen begonnen, wenn Papa zu Hause war. Als er einmal auf einer Geschäftsreise in Yorkshire war, habe ich die Truhe auf dem Dachboden gefunden, wohin er Mamas Sachen verbannt hatte. Ich habe ihr Nachthemd angezogen, weil es wie sie roch.«
    Lottie nickte. Das musste den Jasmingeruch erklären, obwohl er seltsamerweise jetzt viel schwächer schien als noch vor ein paar Minuten.
    Allegra blickte Lottie flehentlich an. »Ich hatte nichts von ihr, weißt du? Er hat alles weggesperrt. Und er hat sich geweigert, überhaupt von ihr zu sprechen. Es war, als hätte es sie nie gegeben, und das konnte ich einfach nicht ertragen!« Die Stimme des Mädchens brach, als ihr Tränen die Wangen hinabliefen. »Oh, ich hasse ihn! Ich hasse ihn aus ganzem Herzen!«
    Lottie hatte nicht gemerkt, dass sie ihre Arme ausgebreitet hatte, bis Allegra sich hineinwarf. Das Mädchen schlang Lottie die Arme um die Taille und schluchzte, als bräche erneut ihr Herz. Während sie Allegra über das dicke, weiche Haar strich, hob Lottie ihren Kopf und sah Hayden auf der Türschwelle zum Musikzimmer stehen. Im Mondlicht war sein Gesicht aschfahl. Ehe sie die Hand nach ihm ausstrecken konnte, war er bereits wieder in den Schatten verschwunden.
    Behutsam breitete Lottie die Decke über das schlafende Kind. Obwohl Allegras Gesicht immer noch tränenfeucht war, schlief sie mit einer Hingabe, wie nur Kinder es können. Vermutlich würde sie erst am Morgen aufwachen. Trotzdem zögerte Lottie, sie allein zu lassen. Sie sah sich im Schlafzimmer um, bis sie ihre alte Puppe auf dem Fenstersitz entdeckte, die sie freundlich angrinste. Lottie drückte Allegra die Puppe sanft in den Arm, ließ die Lampe auf dem Nachttischchen brennen und zog leise die Zimmertür hinter

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