Eine skandalöse Lady
sich ins Schloss.
Sie fand Hayden genau da, wo sie ihn vermutet hatte – er stand in der Mitte des Musiksalons und betrachtete Justines Portrait. Der Mond war weitergewandert und badete das Gemälde in silberem Licht.
»Warum sollte meine Tochter mich nicht hassen?«, fragte er bitter, als er Lotties zögernde Schritte hinter sich hörte. »Schließlich habe ich ihr die Mutter genommen.«
Einen Augenblick lang blieb Lottie das Herz stehen.
»Sieh dich im Haus um«, fuhr er fort. »Außerhalb dieses Raumes gibt es kein Gemälde von ihr, keine Stickereien, die sie angefertigt hat, keine Aquarelle, die sie gemalt hat – noch nicht einmal die kleinste Erinnerung daran, dass sie je hier gelebt hat. Allegra war noch so klein, als ihre Mutter starb. Ich nehme an, ich dachte, es wäre besser, wenn sie sie einfach … vergäße.«
Lotties Herz begann wieder zu schlagen, wenn auch unregelmäßig. Sie ließ sich auf dem Rand des Diwans nieder, da ihr die Knie den Dienst zu versagen drohten. »Wie konntest du glauben, Allegra würde sie vergessen? Du hast sie ja offensichtlich auch nicht vergessen.«
Dem Portrait den Rücken kehrend, ging Hayden zum Flügel und spielte mit einem Finger die ersten Noten des zweiten Satzes aus Beethovens »Pathetique«. »Ich habe ihr sogar nach dem Tod ihrer Mutter das Klavierspiel verboten. Vermutlich hatte ich irgendwie Angst, dass die Musik und der Wahnsinn Hand in Hand gingen, dass sie das eine nicht ohne das andere haben könnte. Justine war einfach brillant. Wäre sie ein Mann gewesen, hätte man sie eingeladen, vor dem König zu spielen. Sie liebte die Musik abgöttisch.«
»Und du liebtest sie.« Lottie weigerte sich, einen von ihnen beiden dadurch zu beleidigen, indem sie das als Frage hinstellte.
Haydens Finger trafen auf die falsche Taste. Er zog seine Hand zurück. »Wir waren sehr jung, als wir heirateten. Ich war gerade zweiundzwanzig und sie siebzehn Jahre alt. Zuerst meinte ich, ihre sprunghaften Launen wären Teil ihres Charmes. Schließlich war sie Französin und viel weniger zurückhaltend als die Frauen, die ich gewohnt war. In der einen Minute lachte sie, in der nächsten schmollte sie wegen irgendeiner eingebildeten Beleidigung, nur um einen gleich darauf in einen Streit zu verwickeln. Danach weinte sie und bat einen völlig zerknirscht um Verzeihung.« Er schüttelte den Kopf, wie über sich selbst verwundert. »Es war unmöglich, ihr länger als ein paar Minuten böse zu sein.«
Lottie warf einen verstohlenen Blick zu dem Portrait und wünschte sich dann, sie hätte es nicht getan.
Hayden setzte sich rittlings auf die Klavierbank vor sie und schaute sie an. »Erst nach Allegras Geburt schlug Justines Launenhaftigkeit in etwas Düstereres um. Tagelang schlief sie nicht, um dann manchmal wochenlang ihr Bett nicht zu verlassen.«
»Das muss sehr schwer für dich gewesen sein.«
Er schüttelte den Kopf, ihr Mitleid ablehnend. »Es gab dunkle Tage, aber auch fröhliche. Wenn es Justine gut ging, waren wir alle glücklich. Sie liebte Allegra über alles. Mutter zu sein bereitete ihr große Freude. Obwohl sie manchmal ihren Zorn an mir ausließ, habe ich nie gesehen, dass sie ihre Hand gegen unsere Tochter erhoben hat.« Sein Gesicht verdunkelte sich so abrupt, dass Lottie unwillkürlich zum Oberlicht schaute, um zu sehen, ob sich wieder eine Wolke vor den Mond geschoben hatte. »Als Allegra sechs war, verfiel Justine wieder in schlimme Melancholie. Ich dachte, eine Saison in London würde sie vielleicht aufheitern. Wir haben so jung geheiratet, und ich habe mich immer ein bisschen schuldig gefühlt, dass ich sie dadurch des gesellschaftlichen Trubels beraubt hatte, den sie so liebte.« Ein bitteres Lächeln spielte um seine Lippen. »Meine besten Freunde Phillipe und Ned hatten ihr vor unserer Eheschließung ebenfalls den Hof gemacht. An unserem Hochzeitstag haben sie gelacht und gescherzt, sie würden es mir nie verzeihen, dass ich ihnen den Schatz vor der Nase weggeschnappt hatte.«
Allerdings ein Schatz mit dunklen Flecken, dachte Lottie, brachte es jedoch fertig, nichts zu sagen.
Hayden erhob sich und begann, auf und ab zu gehen, so wie seine Tochter es vorhin getan hatte. »Zunächst schien London die Antwort auf all meine Gebete zu sein. Mehr als vierzehn Tag lang war Justine umjubelter Mittelpunkt der Gesellschaft, die Schönste auf jedem Ball. Dann begann es ihr wieder schlechter zu gehen. Ich kannte die Anzeichen nur zu gut. Sie hörte auf zu schlafen.
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